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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit
Autoren: Barry Unsworth
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alles nur schlimmer gemacht, da ich mich ausschließlich auf meinen Tastsinn hatte verlassen müssen. 
       »Also, reden kann er«, sagte die Frau. Sie war eine Dirne; das Haar fiel ihr in die Stirn, und sie war noch jung an Jahren, doch die Entbehrungen hatten sich bereits wie eine Maske über ihr Gesicht gelegt. Es war ein Antlitz, wie man es in diesen Zeiten bei vielen Menschen sieht: kein wirkliches Gesicht, sondern eine Maske des Leidens. Über Schultern und Brust trug sie ein Stück Stoff, rot und weiß kariert, mit einem Loch in der Mitte, durch das sie den Kopf gesteckt hatte. Es war der Schulterumhang eines Narren, den sie vom Karren genommen hatte. »Was hat er wohl zu sehen gehofft, als er durch die Sträucher geschlichen ist?« Und sie zog die schlammbeschmutzten Säume ihrer Röcke eine Handbreit höher und spreizte die Knie; es war eine beiläufige Geste, doch sehr lüstern, die Geste einer Hure. Dann führte der Blonde mit dem starren Blick und dem weißen Engelsgewand – der in meinen Augen das Aussehen eines Geistesgestörten besaß – ein Possenspiel auf, indem er sich niederhockte und glotzte und unentwegt lüstern schluckte. Er machte seine Sache ausgezeichnet, doch niemand sagte etwas oder lachte. Sie trauerten um den Toten, sie hatten ihn geliebt. Ich zählte nicht für sie, weil ich wie ein Dieb durch den Wald gekommen war. Sie wußten, daß ich ein Flüchtiger war, mich ohne Erlaubnis außerhalb der Grenzen meiner Diözese herumtrieb. Fahrende Schauspieler sind ebenfalls Wanderer, doch das Wappen dieser Leute ließ darauf schließen, daß sie die Genehmigung eines adeligen Herrn besaßen. 
       Der Mann, der ihr Prinzipal oder Leiter war, kniete wieder neben dem Leichnam nieder, drückte ihm die Lider zu und drehte das Ge sicht des Toten zur Seite, sehr sanft, die Handfläche gegen die Wange des Leichnams gedrückt, um die erschlafften Lippen über dem blutlosen Zahnfleisch wieder zu schließen. »Ach, armer Kerl, armer Brendan «, sprach er. Kurz schaute er zu mir empor. »Du bist zu einer ungünstigen Zeit erschienen«, sagte er in einem Tonfall, in dem keine Feindseligkeit lag. »Du bist zusammen mit seinem Tod gekommen. Jetzt wirst du uns die Gunst erweisen, deiner eigenen Wege zu ziehen.« Doch ich rührte mich nicht von der Stelle, weil mir bei seinen Worten eine Idee gekommen war. »Wir werden Brendan wieder auf den Karren legen müssen«, sagte der Mann und blickte erneut in das tote Gesicht. 
       »Auf den Karren? Wozu? Wohin sollen wir ihn bringen?« fragte der Mann namens Stephen abrupt. Ich sah, daß der Prinzipal schluckte und daß ihm leichte Zornesröte ins Gesicht stieg, doch er erwiderte nicht sofort etwas darauf. »Und du sieh zu, daß du weiterkommst, solange du noch gehen kannst«, sagte Stephen mit scharfer Stimme zu mir – auch in ihm war Zorn. 
       »Wartet«, entgegnete ich. »Laßt mich mit euch reisen. Ich bin nicht groß, aber ziemlich kräftig, und ich könnte beim Tragen der Bretter und Gerüste helfen, wenn ihr einen Stand errichtet. Außerdem habe ich eine gute Handschrift und könnte Rollen abschreiben und den Schauspielern soufflieren.« 
       Ja, der Vorschlag kam von mir, die ursprüngliche Idee, doch anfangs dachte ich nicht im mindesten daran, in den Stücken dieser Truppe mitzuspielen und somit jenes schändliche Gewerbe auszuüben, artera illam ignominiosam, die mir und meinesgleichen von der heiligen Kirche verbotene Kunst. Mein einziger Gedanke war, mit ihnen zu reisen, und zwar des Wappens wegen, das der Prinzipal trug und das zeigte, daß diese Theatertruppe einem Adeligen gehörte und einen Freibrief dieses hohen Herrn besaß, so daß die Schauspieler nicht in Zwangsstöcke gelegt oder als Vagabunden ausgepeitscht würden, wie es Flüchtlingen und Herrenlosen widerfährt, die eindeutig als solche erkennbar sind, und wie es auch schon mit Geistlichen geschehen ist, die kein Sendschreiben ihres Bischofs besaßen. Auch war mir der be trogene Ehemann noch deutlich in Erinnerung: Falls er mich verfolgte, würde ich in einer Gruppe wie dieser Sicherheit finden. Doch ich schwöre, nie kam mir auch nur der leiseste Gedanke, den Platz des Toten einzunehmen. Hätte ich von den Schlingen des Bösen gewußt, in die uns dieser Tod am Wegesrand noch alle führen sollte, wäre ich ohne eine weitere Silbe und in aller gebotenen Eile meiner Wege gezogen. 
       Noch hatte ich keine Antwort bekommen, doch mir schien, daß ein leises Lachen zu mir
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