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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit
Autoren: Barry Unsworth
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drang. »Ich kann euch die Beichte abnehmen«, sagte ich. »Ich kann die Heilige Schrift auslegen. Ich gebe ja zu, daß ich keine Pfründe habe und mich außerhalb meiner Diözese befinde, doch einen Gottesdienst kann ich durchaus noch lesen. Ich würde auch keinen Lohn verlangen. Nur etwas zu essen brauchte ich auf der Reise und eine Schlafstelle für die Nacht.« 
       »Deine Auslegung der Schrift brauchen wir nicht«, meinte der Prinzipal. »So wenig wie dein Latein. Und was das Aufstellen eines Standes betrifft, so gibt es immer Männer, die ihre Hilfe anbieten, wenn wir welche brauchen, und die dafür nichts weiter verlangen als ein Viertel Bier und einen Kanten Käse, und das ist billiger, als müßte man den ganzen weiten Weg einen zusätzlichen Bauch füllen.« 
       Doch musterte er mich jetzt anders als zuvor, und sein Gesicht hatte einen grübelnden Ausdruck angenommen. Er hatte den Jammer aus meiner Stimme herausgehört, vielleicht auch die Furcht – ein einsamer Mann fällt leicht der Furcht anheim, es sei denn, er wählt die Einsamkeit um Christi willen. »Ein Priester kann gewöhnlich singen«, sagte der Prinzipal. »Hast du eine Singstimme?« 
       »Aber ja«, erwiderte ich mit einiger Verwunderung; denn noch erkannte ich nicht, worauf er hinauswollte. Und es war die Wahrheit; meine Stimme hat des öfteren Beifall gefunden. Sie besitzt keine große Kraft, ist jedoch rein und süß im Klang. Wenn mir unterwegs das Geld ausgegangen war, hatte ich meine Stimme mitunter für weltliche Zwecke eingesetzt: Der Not gehorchend, hatte ich in Schenken gesungen. Manchmal hatte man mich verdroschen, doch häufiger hatte man mir zu essen und einen Platz zum Schlafen gegeben.
       »Brendan war ein wunderbarer Sänger«, sagte der Prinzipal. »Er übertraf die Nachtigall.«
       »Er sang wie ein Engel«, meinte der mit dem flachsfarbenen Haar, und er sagte es mit jenen eigenartigen Ausdrücken und Bildern des Überschwangs, die ihm eigen waren: »Fest auf den Füßen stand er da und hob den Kopf; es war, als würde ein Baum mit seinen Blättern singen. «
       »Sein Lied war wie ein Seil aus Seide«, sagte Stephen. Seine Stimme war tief; die Heiserkeit des Trinkers schwang darin mit.
       Dies war das erste Mal, daß mir eine Eigenschaft auffiel, welche diesen Leuten gemein war: Sie sprachen mit einer Stimme, wie ein Chor, jedoch nacheinander, so daß es einer Tonleiter in der Musik ähnelte. Und ihr Verhalten hatte sich geändert; sie teilten nun ihr Wissen über den Toten mit mir. Doch es war nicht leicht für mich, mir süße Klänge vorzustellen, die aus einer Kehle kamen, wie Brendan sie jetzt besaß, oder aus dem jämmerlich verkrümmten Mund und daß die Lippen sich dabei im Gesang bewegten. Sein Gesicht hatte sich bei dem kalten Wetter in Schweineschmalz verwandelt. »Wie ist er zu Tode gekommen? « fragte ich.
       »Als er gestern hinter dem Karren ging, schrie er plötzlich auf und fiel um«, sagte der vierte Mann, der sich jetzt erstmals zu Wort meldete. Er war schon älter, mit schütterem Haar, länglichem Kinn und hellblauen Augen. »Er konnte nicht mehr aufstehen und mußte hochgehoben werden«, sagte er.
       »Von da an konnte er auch nicht mehr sprechen«, fügte der Knabe hinzu. »Und wir mußten ihn auf den Karren legen.«
       »Geräusche konnte er noch von sich geben, aber keine Worte«, sagte der Prinzipal. »Dabei war er ein so redseliger Mann und stets zu Scherzen aufgelegt.« Er warf mir einen Blick zu, und ich bemerkte einen Anflug von Schrecken in seinen Augen. Ich erkannte, daß die Stummheit, die Brendan, den Sänger und Spaßmacher, befallen hatte, ein Alptraum für ihn war. »Sing etwas«, hieß er mich.
       Ich hätte nicht gehorchen sollen, denn er hatte etwas mit mir vor, das nicht recht war, und ich hegte inzwischen so meinen Verdacht. Auf tritte auf öffentlichen Bühnen waren uns von der Synode, zuerst zu Exeter und dann zu Chester, verboten worden, des weiteren durch das Edikt unseres Heiligen Vaters, Bonifaz VIII. Deshalb wußte ich, daß ich mich der Gefahr einer Degradation, einer Aberkennung der geistlichen Tracht und Zurückversetzung in den Laienstand, aussetzte. Aber ich war hungrig und krank im Herzen.
       »Möchtet ihr ein Liebeslied hören?« fragte ich. »Oder ein Lied über gute Werke?«
       »Ein Liebeslied, ein Liebeslied«, sagte Stephen. »Der Teufel soll die guten Werke holen.« Er sagte es, ohne den Mund zu verziehen. Die ganze Zeit,
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