Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit
Autoren: Barry Unsworth
Vom Netzwerk:
Schal des Jungen gemacht war. Der Mann verschied, ohne daß ihm jemand die Beichte abnahm. Vielleicht hätte die Zeit gereicht, ihm das Kreuz hinzustrecken, doch ich hatte Angst, mich zu nähern. Mea maxima culpa . 
       Ich konnte den Sterbenden in diesem Augenblick nicht sehen, hörte jedoch über die kurze Entfernung hinweg, die zwischen mir und den Leuten lag, wie er um Luft rang, und ich sah auch die Atemwolken vor den Mündern der anderen über ihm. Es war wie Weihrauch, wie ein Nebel der Andacht. Dann endete das Geräusch, und ich sah, wie sie zurückwichen, um Platz zu machen für den Tod – was sehr klug ist, denn der Tod ist weniger gefährlich, wenn man ihm Raum läßt, als in der Enge. Es war wie die Szene in einem Maskenspiel, wenn die gepeinigte Seele aus dem Körper befreit wird. In diesem Augenblick sah ich, daß einer der Männer ein aufgenähtes Abzeichen an seiner Mütze trug: das Wappen eines adeligen Herrn, in dessen Diensten er stand. Im selben Augenblick spürte der Hund mich auf. Es war eine halbverhungerte Kreatur, jede Rippe war zu sehen, doch weder bettelte das Tier, noch sprang es mich an, sondern legte nur arglose Gutmütigkeit an den Tag. Der Hund hatte mehr als einmal versucht, sich in den Kreis um den Toten zu drängen, war jedoch weggescheucht worden und hatte dann am Rande der Lichtung herumgeschnüffelt, so daß er schließlich an die Stelle kam, wo ich hinter meinem Baum kauerte. Das Tier fing an zu kläffen, und wenn es sich auch eher nach einem Willkommensgruß als nach einer Drohung anhörte, so rief das Gebell doch den Kerl mit dem grünen Hut auf den Plan, einen ungeschlachten Koloß von einem Menschen. Er hatte schwarzes Haar, zu einem Zopf gebunden, und seine Augen waren schwarz wie Haferpflaumen. Bei meinem Anblick zog er ein Messer. Als ich es sah, sprang ich hastig auf und machte mit offenen Händen die priesterliche Geste der Dankbarkeit für einen Segen, damit er auch sofort sah, wen er vor sich hatte. »Komm da raus, und zeig dein Gesicht«, sagte er. 
      Natürlich kam ich dieser Aufforderung umgehend nach. »Ich bin durch den Wald gegangen«, sagte ich, »und rein zufällig auf euch gestoßen. In einem solchen Augenblick wollte ich nicht stören.« 
       Die anderen hatten sich derweil von dem Toten erhoben, dessen Augen weit aufgerissen und so blau wie Drosseleier waren. Er war glatzköpfig, mit rundem Schädel und einem gedunsenen Gesicht, das wie eine Maske aus Talg aussah, und sein Mund war verzogen und stand ein Stückchen auf. Der Köter nutzte die Gelegenheit, dem Toten das Gesicht zu lecken, und dieses Lecken öffnete den Mund des Verblichenen noch weiter. Der Knabe versetzte dem Hund einen Tritt, und das Tier jaulte und trollte sich, um an einen Baum zu pinkeln. »Ein Priester «, sagte der Knabe. Es war kein Schal, den er über den Schultern trug, sondern irgendein Kleidungsstück mit baumelnden Beinteilen. Ich sah jetzt, daß er weinte; sein Gesicht war tränennaß. 
       »Du hättest zurückgehen oder einen anderen Weg nehmen können«, meinte der Bursche mit dem Abzeichen an der Mütze. »Du hast dich fürs Spionieren entschieden.« Das Wappen stellte einen weißen Storch über gekreuzten Hellebarden dar. Doch nicht nur anhand dieses Abzeichens erkannte ich, daß der Mann der Anführer der Gruppe war, sondern auch daran, daß er für alle anderen sprach. Er war einige Jahre älter als ich, von mittlerer Größe und zierlicher Gestalt, jedoch drahtig und beweglich. Als einziger hatte er keine geliehenen Sachen an. Er trug ein Wams aus Schaffell und darunter eine kurze Hemdbluse, die am Hals schon recht abgewetzt war. Die Muskeln seiner Waden und Oberschenkel zeichneten sich deutlich unter dem dünnen Stoff der Hose ab. »Du bist zu spät gekommen, um wenigstens noch dein Amt zu verrichten«, sagte er voller Verachtung. »Brendan starb, ohne seiner Sünden ledig zu sein, während du dich da drüben versteckt hast.« Sein Gesicht, ein schmales Oval, war jetzt weiß vor Trauer oder Kälte. Die Augen waren wunderschön, von graugrüner Farbe unter geschwungenen Brauen. Später fragte ich mich, warum ich damals keine Gefahr in diesem Gesicht erblickte, dem Gesicht eines Eiferers; doch der Teil meiner Seele, der uns die Fähigkeit verleiht, Dinge vorauszuahnen, war gefangen in der Furcht des Augenblicks. Ich bin nicht mutig und war in einem Augenblick des Todes auf diese Leute gestoßen. Ich war ein Fremder, und in gewisser Weise konnte man mir eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher