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Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Titel: Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
Autoren: Bernhard Bueb
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Tage, / Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen« – so lauten die Worte, die Shakespeare in Hamlet Polonius zu seinem Sohn Laertes sprechen lässt, bevor dieser nach Paris aufbricht. Authentisch nennen wir Menschen, die ihre Stärken und Schwächen kennen, die sich so geben, wie sie sind; die bereit sind, unangenehme Wahrheiten über sich anzuhören, und die auch dann wahrhaftig reden und handeln, wenn Wahrhaftigkeit ihnen schadet. Andere Menschen erleben sie als integer, als unverstellt und vertrauenswürdig.
    In meiner Funktion als Schulleiter in Salem musste ich immer wieder zu unterschiedlichen Anlässen Reden halten. In den Anfangsjahren gelang es mir nicht, die Zuhörer zu erreichen, weil ich mich selbst hinter allgemeinen Sätzen und Zitaten fremder Autoritäten versteckte. Erst als ich besser wusste, wer ich bin, fester auf meinen Füßen stand und wagte, von mir zu sprechen und meine eigenen Gedanken vorzutragen, wirkte ich authentisch. Insbesondere die Schüler fanden meine Reden auf einmal interessant und freuten sich sogar darauf. Meine Autorität wuchs. Man kann in Reden unecht wirken, auch wenn man keine Unwahrheit sagt. Streng genommen ist auch dies eine Variante des Selbstbetrugs.
    Wer von der Schwierigkeit, ehrlich zu sein, berichtet, muss drei Mächte erwähnen, die unser Leben und Handeln beherrschen: nämlich Macht, Geld und Sexualität. Es sind neutrale Mächte, die den Menschen Glück und Segen, aber auch Unglück und Fluch bringen können. Der Prüfstein, ob sie zum Heil oder zum Unheil gereichen, ist die Wahrhaftigkeit.
    Im Räderwerk der Geschichte können sie dunkle Gewalten sein – man denke nur an Nero, an den goldgierigen spanischen Eroberer Francisco Pizzaro oder an Kleopatra. Aber nicht nur viele »Große« sind mindestens einer dieser Mächte zeitweise oder immer erlegen, sondern auch unsere Entscheidungen im Alltag werden davon gelenkt. Und die meisten Romane handeln von ihren beglückenden und verstörenden Wirkungen.
    Die längste Zeit in der Geschichte des Christentums glaubten Christen, dass diese Mächte nur durch Verzicht und Sublimierung, also durch Umlenkung ins Geistige und Mystische, zu beherrschen seien. Wer ganz und gar in der Nachfolge Jesu Christi und als wirklich moralischer Mensch leben wollte, ging ins Kloster und musste dazu drei Gelübde ablegen: nämlich das Versprechen, ein Leben in Gehorsam (Verzicht auf eigenen Willen, vor allem auf Willen zur Macht), in Armut (Verzicht auf Besitz und Geld) und in Keuschheit (Verzicht auf Sexualität) zu führen.
    Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber ist die Voraussetzung, um ein solches von asketischen Idealen geprägtes Leben meistern zu können. Deswegen erwarteten die Ordensgründer von jedem, der ihrer Gemeinschaft beitreten wollte, die Bereitschaft zu einer über Jahre dauernden Selbstprüfung. Schon der Entschluss, den Schritt ins Kloster zu machen, konnte die Folge eines Selbstbetrugs sein. Dem endgültigen Eintritt wurde deswegen ein Noviziat vorangestellt, das letztlich nichts anderes ist als eine ritualisierte Selbstprüfung. Habe ich mich tatsächlich aus Liebe zu Gott für diese Existenzform entschieden? Oder verzichte ich auf den Willen zur Macht, um als moralisch Überlegener Macht zu genießen? Wurde diese Frage mit Ja beantwortet, war der Selbstbetrug offensichtlich.
    Ich selbst trug mich nach dem Abitur an einer Jesuitenschule mit dem Gedanken, in den Orden einzutreten. Ein kluger geistlicher Berater führte mich in vielen Gesprächen zu der Erkenntnis, dass ich auf dem besten Wege war, mich selbst zu belügen. Die geistige Überlegenheit der Jesuiten und ihre moralische Macht durch Selbstüberwindung faszinierten mich mehr als ein gottgefälliges Leben. Ich wäre den nicht wenigen Menschen in der Geschichte des Christentums gefolgt, die einem Selbstbetrug erlegen waren. Der Großinquisitor im Mittelalter bildete die höchste Personifizierung einer solchen Lebenslüge. Auch evangelische Pfarrer und katholische Priester waren oft Opfer solchen Selbstbetrugs.
    Das größte Unheil richten Menschen an, die die Wahrheit genau kennen. Ihnen ist kritische Selbstprüfung fremd. Sie haben irgendwann beschlossen, nicht mehr über sich nachzudenken oder gar an sich zu zweifeln. Wie bereits erwähnt, gehören Fundamentalisten aller Art dieser Gattung an. Sofern sie mit absolutem Wahrheitsanspruch als Gruppe auftreten, erkennt man sie von weitem und kann sich von ihnen distanzieren. Aber es gibt auch einzelne
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