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Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Titel: Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
Autoren: Bernhard Bueb
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wie der Gemüsehändler einen ersten Schritt tut, macht einen ersten Schritt in die Unabhängigkeit. Dieser erste Schritt kann darin bestehen, dass einer sich eingesteht, unter einem Diktat zu leben. Damit beginnt er, sich von diesem Diktat zu befreien.
    Den ersten Schritt in die Unabhängigkeit tun wir in der Pubertät – oder sollten wir tun. Kinder rufen noch unbefangen: »Der Kaiser ist nackt.« Sie kennen noch nicht das Leben in Lüge. Die Pubertät ist die Phase, in der Jugendliche zunehmend für sich selbst Verantwortung übernehmen wollen und sollen. Sie wollen entdecken, wer sie sind. Sie wollen sich nicht mehr vorschreiben lassen, wer sie sein sollen. Sie verstehen intuitiv, dass sie in der Lüge leben werden, wenn sie nicht lernen, ihr Leben selbst zu bestimmen. Wenn sie sagen: »Der Kaiser ist nackt«, ist das der erste mutige Schritt in die Freiheit.
    Das Diktat der Markenkleidung ist ein äußerliches Diktat. Die Befreiung davon kann der erste Schritt eines Jugendlichen zu sich selbst sein. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das sich diesem Diktat widersetzte und sich demonstrativ durch ihre Kleidung von den anderen unterscheiden wollte. Das wirkte mutig und beeindruckte uns zunächst. Dann erkannten wir aber, dass sie auffallen wollte. Ihr narzisstisches Naturell verführte sie dazu, sich die Aufmerksamkeit der anderen sichern zu wollen. Sie befreite sich vom Diktat der Markenkleidung, blieb aber eine Gefangene ihres Narzissmus, sie wechselte von einem Leben in Lüge in ein weiteres Leben in Lüge.
    Ein anderes Mädchen beschloss eines Tages, sich dem Diktat der Markenkleidung zu entziehen. Sie hatte ihre Ferien in einem Jugendlager verbracht, hatte sich von der Natürlichkeit des Auftretens der Gleichaltrigen anstecken lassen und dabei ihre Abhängigkeit erkannt. Ihre Kleidung entsprach danach ihrem Naturell – farbig, einfach im Stil, manchmal ein wenig eigenwillig. Sie entdeckte, dass sie mit Understatement ihrer Kleidung authentischer wirkte. Es war ihr erster Schritt in die Unabhängigkeit.
    Erwachsene und Jugendliche sind abhängig von der Meinung anderer. Sie tun viel dafür, ihr Ansehen zu vermehren oder mindestens zu wahren. Ihre Unabhängigkeit von der Meinung anderer geht einher mit ihrer Fähigkeit, ihren eigenen Weg selbst zu bestimmen. Diese Fähigkeit müssen Jugendliche erst mühsam erwerben, weil sie noch nicht recht wissen, wer sie sind. Ihr Weg zu einem selbstbestimmten Leben sollte nicht nur über den Protest gegen die Autorität der Erwachsenen führen; sie sollten lernen, ihren eigenen Weg auch gegen den Gruppendruck der Gleichaltrigen zu gehen, dem sie täglich ausgesetzt sind. Das tägliche Schielen auf die Meinung der Gleichaltrigen ist die größte Abhängigkeit, die junge Menschen erleben.
    Wer sich aus einer Abhängigkeit befreit, verlässt ein Leben in Lüge. Er weicht von dem üblichen Verhalten ab. Er gewinnt an Selbstvertrauen und Zufriedenheit. Eine unabhängige Haltung bleibt nicht ohne Wirkung. Das Mädchen, das sich entschloss, die Markenkleidung ohne viel Aufhebens aufzugeben, konnte nicht damit rechnen, dass andere ihr unmittelbar folgen. Mitschülerinnen waren aber beeindruckt und begannen nachzudenken.
    Wenn ein Einzelner sich entschließt, unabhängiger zu leben, ist das noch keine politische Handlung. Erst wenn er Bundesgenossen sucht, um gemeinsam mit ihnen Einfluss auf die Art und Weise zu nehmen, wie sie in ihrer Gesellschaft leben und arbeiten wollen, handelt er politisch.
    Dissidenten entziehen sich nicht einem Regime, sie treten vielmehr offen für die Wahrheit ein, sie verteidigen die Wahrheit gegen das Regime. Eine Demokratie braucht keine Dissidenten. Sie braucht aber sehr wohl Menschen, die rufen, dass der Kaiser nichts anhat, wenn er nichts anhat. Viele unterlassen dies, weil sie Konsequenzen fürchten – sie könnten sich unbeliebt machen oder benachteiligt werden. Denn wer eine Wahrheit ausspricht, ärgert in der Regel jemanden oder lässt ihn in einem schlechten Licht erscheinen.
    Auch in einer Demokratie kann es einem ehrlichen Menschen so ergehen wie dem Gemüsehändler aus Prag. Ich denke etwa an Daniel Ellsberg, der 1971 geheime Pentagon-Papiere veröffentlichte. Auf diese Weise deckte er auf, dass die US-amerikanische Öffentlichkeit in Bezug auf den Vietnamkrieg gezielt irregeführt wurde – und zwar durch alle Präsidenten, von Harry S. Truman bis hin zu Richard Nixon. Ellsberg drohte wegen Diebstahls und unerlaubten Besitzes von
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