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Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Titel: Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
Autoren: Bernhard Bueb
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Enttäuschung des Fragenden nicht so unmittelbar und ungeschützt aushalten. Denn diesen Augenblick fürchten wir, wenn wir einem anderen gegenübertreten und wissen, wie es ihn trifft, dass wir ihn angelogen haben. Wir wissen, wie sehr unsere Lüge den Kollegen oder Freund verletzt hat. Die Bemerkung »Das hätte ich von dir nicht erwartet!« haut uns um. Wir hätten doch so gern das Bild des ehrlichen Menschen bewahrt. Aber wir können es nur retten, wenn wir unser Versagen bekennen.
    Das gute Bild von sich zu wahren ist unter anständigen Menschen sehr häufig ein Grund zu lügen. Das Mädchen wollte vor dem Vater nicht als gemein erscheinen, weil sie dem Bruder den Nachtisch weggegessen hatte. Eine Schülerin, aufrichtig von Natur, heiteren Gemüts und überall beliebt, ließ sich von Mitschülern zu einer nächtlichen Aktion verführen, die durch reichlichen Genuss von Alkohol und die darauf folgenden Nebenwirkungen Aufsehen erregte. Sie solidarisierte sich mit den anderen und leugnete alle Tatbestände. Sie wollte den Satz nicht hören: »Das hätten wir gerade von dir nicht erwartet.« Sie wollte doch weiterhin für ihr aufrichtiges Wesen geliebt werden. Zu spät, weil schon überführt, stand sie zu der Tat und war doppelt unglücklich, weil die Leugnung der Tat schwerer wog als die Tat selbst.
    Angst hindert viele daran, ehrlich zu sein. »Da erinnerte sich Petrus des Wortes Jesu, der gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich.« (Math. 26,75) Die animalische Angst, mit seinem Herrn verhaftet zu werden, ließ ihn dreimal verneinen, dass er zu Jesus gehört.
    Ehrlich sein heißt nicht nur sagen, was man denkt. Der Ehrliche soll auch aufklären, wo er Lüge vermutet. Ich möchte an einem Beispiel, das in den letzten Jahren viele Menschen bewegt hat, von meinem Versäumnis berichten, eine Lüge zum rechten Zeitpunkt mit Nachdruck aufzudecken. Erst seit Anfang dieses Jahrhunderts wurden in großem Umfang Wahrheiten über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und in deutschen Internaten bekannt. Sie erinnern in Umfang und Ausmaß des Leidens an die Misshandlungen der Sklaven. Bis dahin hatte die wissenschaftliche und die praktische Pädagogik sexuellen Missbrauch selten thematisiert und wenn, dann nie mit dem dramatischen Ernst, den das Thema verdient hätte. In kurzer Zeit überschwemmten die Nachrichten über Missbrauch die Medien. Es wurde berichtet, wie Kirchenleitungen versucht hatten, die bekannt gewordenen Fälle unter der Hand zu regeln, indem sie Täter versetzt und Therapien angeordnet, aber den verbrecherischen Aspekt der Taten nicht wahrgenommen hatten. Die öffentliche Debatte erreichte 2010 ihren Höhepunkt, als die Verbrechen des ehemaligen Schulleiters der Odenwaldschule, Gerold Becker, bekannt wurden. Über fünfzehn Jahre hatte er Jugendliche missbraucht. Aber auch seine Taten wurden erst zögerlich in ihrer ganzen Dimension erkannt.
    Zwölf Jahre bevor das Entsetzen über seine Verbrechen die Öffentlichkeit erreichte, hatten ihn zwei ehemalige Schüler in offenen Briefen des Missbrauchs bezichtigt. Die Vorwürfe wurden von seinem Nachfolger in gemeinsamer Anstrengung mit den Gremien der Schule sorgfältig untersucht, in einem Bericht zusammengefasst und an das Regierungspräsidium geschickt. Niemand reagierte auf diesen Bericht. Eine öffentliche Debatte unterblieb. Auch wir Pädagogen, sowohl diejenigen, die Becker persönlich kannten, als auch diejenigen, die ihn nicht kannten, gingen zur Tagesordnung über. Wie konnte so etwas geschehen?
    Ich kann mir diese Untätigkeit aller – die Medien blieben stumm, die hessische Regierung handelte nicht – nur dadurch erklären, dass viele das Undenkbare nicht denken wollten. Das, was geschehen war, lag weit außerhalb unseres Vorstellungshorizonts. Heute werfe ich mir vor, dass auch ich mich damals zu wenig für eine rückhaltlose Aufklärung der Vorwürfe eingesetzt habe.
    Die offene Berichterstattung und die öffentliche Diskussion nach 2010 führten dazu, dass das Thema sexueller Missbrauch zum ersten Mal in seinen ganzen Dimensionen erkannt und ernst genommen wurde. Entsprechend haben Pädagogen begonnen, Maßnahmen zu fordern, um Missbrauch vorzubeugen. Eltern sollen Kinder früh darüber aufklären, dass es Erwachsene gibt, die krank sind und sich an Kindern vergreifen; Kindern muss klargemacht werden, dass sie sofort mitteilen müssen, wenn sie das leiseste
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