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Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Titel: Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
Autoren: Bernhard Bueb
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sich häufig, tat immer wieder unerschrocken seine Meinung kund und bekam die Folgen zu spüren. 1917 verfasste er in seiner Funktion als Mitglied der »Zentralstelle für den Auslandsdienst« eine Denkschrift, in der er darauf hinwies, dass die Proklamierung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges durch die Deutschen von den Briten gewünscht werde, um Amerika kriegswillig zu machen, und dass die Deutschen dabei seien, ihnen auf den Leim zu gehen. Seine Vorgesetzten teilten seine Auffassung, verwarfen diese Gedanken aber als inopportun und sorgten dafür, dass Hahn in eine andere Abteilung versetzt wurde. Entschlossen handelte er im Juni 1932, als er, nachdem fünf SA-Männer einen Kommunisten umgebracht hatten – eine Aktion, die von Hitler begrüßt wurde –, ein Schreiben an alle Mitglieder des Altschülervereins Salemer Bund richtete und sie aufforderte, sich entweder für Hitler oder für Salem zu entscheiden.
    Dieses Ethos der Aufrichtigkeit, für das die Gründer eintraten, war noch lebendig, als ich 1974 die Leitung Salems übernahm. Die praktizierte Ehrlichkeit des frühen Salem fand ich allerdings bei den Schülern nicht mehr vor. Wie eine Legende klangen die Berichte aus alten Tagen, als Lehrer bei Klassenarbeiten die Schüler allein ließen und sich jeder auf das Wort des anderen ungeprüft verlassen konnte.
    Das bedeutet nicht, dass die Schüler weniger tugendhaft waren als die Schüler der Vorkriegszeit. Die Schüler im »alten« Salem waren ehrlich gewesen, weil sie ihre Zugehörigkeit zur Elite nicht gefährden wollten. Ihre Ehrlichkeit resultierte nicht immer aus einer größeren Charakterstärke. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war Ehrlichkeit eine mühsam errungene Haltung gegen die unter Schülern verbreitete Auffassung, der Ehrliche sei der Dumme.
    Es gibt auch noch eine weitere Erklärung. Unterricht spielte in der Frühzeit Salems eine geringe Rolle; die politische Bildung und die Charakterbildung durch die vielfältigen Aktivitäten im Internat dominierten. So auch in Gordonstoun, der Schule, die Kurt Hahn nach seiner erzwungenen Emigration in Schottland gegründet hatte. Als ich kurz nach meiner Übernahme der Leitung Salems Professor Werner von Simson traf, damals Rechtsgelehrter in Freiburg, erzählte er mir, sein Sohn habe in Gordonstoun zwar gelernt, wie man Feuer löscht und in Seenot geratene Menschen rettet, habe aber, so sein Eindruck, die Schule als Analphabet verlassen. Hahn habe zu wenig Wert auf akademische Bildung gelegt.
    Die Zeiten hatten sich geändert. Früher spielte es für die künftige Laufbahn eines Schülers eine geringe Rolle, wie sein Abitur ausfiel. Daher mussten Schüler nicht betrügen, um ihre Chancen zu verbessern. Es hing auch damit zusammen, dass die Eltern der Salemer Schüler weitgehend der Oberschicht angehörten. Ihre berufliche Karriere war gesichert.
    Der zunehmende Materialismus der Wirtschaftswunderjahre strapazierte die Moral der Menschen und blieb nicht ohne Wirkung auf die Salemer Schüler. Viele Eltern zählten zu einer Generation von Aufsteigern. Sie folgten nicht immer dem Ethos, wahrhaftig um der Wahrhaftigkeit willen zu handeln. Sie pflegten ein Nützlichkeitsdenken, das auch heute vorherrscht. Familien der Oberschicht hatten sich eher moralisch verhalten können, weil sie sich nicht von unten nach oben durchboxen mussten. Zum Lebensstil gehörte das Wissen darum, »what is done and what is not done«. Da gab es natürlich viel Scheinheiligkeit und doppelte Moral.
    Obwohl sich das Verhalten der Salemer Schüler gewandelt hatte, blieb Salem sich treu. Das Ethos der Ehrlichkeit hatten die Mitarbeiter der Schule nicht nur bewahrt, sie hatten es im Alltag gelebt, auch unter den erschwerten Bedingungen der Nachkriegszeit. Ich war beeindruckt von dieser Haltung und ließ mich überzeugen, dass wir nicht allein durch Kontrolle und Strafe, auch nicht durch naives Vertrauen die Schüler zu ehrlichen Menschen erziehen konnten. Durch das Zusammenleben im Internat hatten wir die Zeit, die Schüler für die Frage der Wahrhaftigkeit zu sensibilisieren. Das bedeutete viele, heftige Konflikte und keine Kompromisse in Wahrheitsfragen.
    Die Verfassung der Schülermitverwaltung sah Gremien aus Erwachsenen und Schülern vor, die zusammentraten, um die Wahrheit in Verdachtsfällen herauszufinden. Diese Gremien waren von Kurt Hahn eingeführt, aber in den siebziger Jahren demokratisiert worden. Als Institution der Wahrheitsfindung glichen sie einem
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