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Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Titel: Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
Autoren: Bernhard Bueb
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Grund dafür, dass es so schwierig ist, ehrlich zu sein, ist unser Mangel an Mut. Ich brachte es nicht über mich, dem Abiturienten zu sagen, dass es chancenlos sei, sich bei der Studienstiftung zu bewerben, einer Fördereinrichtung für sehr begabte Studenten. Auf seine Bitten hin schrieb ich ein Gutachten. Es war ehrlich und verminderte seine Chancen. Auch brachte ich es nicht über mich, einem Schüler die Note zu geben, die er verdient hätte. Er gab sich immer viel Mühe, aber er hatte das Pulver nicht erfunden. Mitleid ist keine gute Rechtfertigung für Unehrlichkeit.
    In dem Film »Ziemlich beste Freunde« sucht ein querschnittsgelähmter reicher Mann einen Pfleger. Er entscheidet sich für einen jungen Mann, der auf seinen Zustand nicht therapeutisch reagiert. »Ich würde mir an Ihrer Stelle die Kugel geben«, wird der Pfleger zitiert. »Wie kann ich, wenn ich gelähmt bin«, antwortet der Patient. Der Pfleger gab ihm seine Würde zurück, weil er ihn ehrlich behandelte. Behinderte haben ein Recht auf Ehrlichkeit – wie alle Menschen. Ich habe Lehrer geschätzt, die aus Fürsorge die Leistung der Schüler ehrlich bewerteten. Ehrlich hieß, ihnen mutig die persönliche, durchaus subjektive Einschätzung mitzuteilen und ihnen dadurch zu helfen, sich selbst besser einschätzen zu können.
    Wie aber halten wir es mit Kindern? Dürfen beziehungsweise sollen wir Kinder loben, um sie zu ermutigen, auch wenn wir das Produkt ihrer Leistung unzureichend finden? Dürfen wir die kleinen Lügen zulassen, die wir uns hin und wieder bei Erwachsenen erlauben? Meine klare Antwort lautet: Nein – und gleichzeitig muss ich diese Antwort etwas differenzieren. Wenn ein Kind sein Bestes gegeben hat, das Produkt aber mäßig ist, dann ist trotzdem Lob geboten. Denn wir wollen nicht das Produkt loben, sondern die Leistung des Kindes. Wenn aber erkennbar ist, dass das mäßige Produkt die Folge seiner mangelnden Anstrengung ist, dürfen wir das Kind nicht loben.
    In ihrem Buch Die Mutter des Erfolgs: Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte erzählt die berühmte »Tigermutter« Amy Chua, eine Amerikanerin chinesischer Herkunft, dass sie ein Geschenk, das ihr ihre beiden sechs- und achtjährigen Töchter zum Geburtstag gebastelt hatten, nicht annahm, weil sie es sichtlich schnell und ein wenig lieblos fabriziert hatten. Ihre Reaktion leuchtete mir sehr ein. Sie erwarte von ihren Kindern höchste Anstrengung, so wie auch sie sich ein Bein ausreiße, um ihnen gute Bildungschancen zu ermöglichen.
    Auch in Freundschaften, in der Ehe und in der kollegialen Zusammenarbeit fehlt uns oft der Mut zur Ehrlichkeit. »Tapferkeit vor dem Freund« nannte Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht »Alle Tage« diese für eine Freundschaft so unverzichtbare Tugend. Ich darf dem Freund nicht verschweigen, dass ich sein Verhalten kritisch sehe. Er wird eine »Wahrheit«, die ich ihm mitteile, nicht ohne weiteres akzeptieren. Ich muss sie hartnäckig und wiederholt vortragen und immer wieder mit guten Argumenten unterfüttern. »Mir kommt ein Wort des Prinzen Max in Erinnerung«, äußerte Kurt Hahn einmal, »der Wert einer Überzeugung liegt nicht so sehr in ihrer Klarheit, mit der sie verkündet wird, als in der Standhaftigkeit, mit der sie verteidigt wird.«
    All die genannten Beispiele schildern Situationen, in denen die Beweggründe für unehrliches Auftreten psychologisch verständlich sind. Diese Beweggründe sind aber nicht unmoralisch. Nicht jede Unehrlichkeit ist eine Lüge. Mit der Lüge betreten wir neue Gefilde.
    Menschen lügen aus vielerlei Gründen: Sie wollen einen Vorteil ergattern, sie wollen Schaden, auch Strafen von sich abwenden, sie wollen anderen Schaden zufügen, sie wollen ein Bild von sich erzeugen, das ihnen Ansehen bringt, oder sie haben Angst. Ich klammere die sogenannte »Notlüge« hier aus, weil sie nicht als unmoralisch einzustufen ist. Davon wird später die Rede sein.
    Eltern und Lehrer sollten Kindern Brücken bauen, um es ihnen leichter zu machen, ehrlich zu sein. Ein Vater fragt seine achtjährige Tochter, ob sie den Nachtisch, der für den Bruder aufgehoben wurde, gegessen habe. Sie gibt ihm keine klare Antwort. Schließlich fragt er: »Hast du den Nachtisch gegessen, ja, nein oder vielleicht?« Ganz schnell antwortet sie: »Vielleicht.«
    Wie erlösend wäre es, wenn auch wir Erwachsenen ab und zu »vielleicht« antworten dürften. Wir ständen nicht so nackt und hilflos da. Wir müssten die Wucht der
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