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Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Titel: Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
Autoren: Bernhard Bueb
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Psychologen dieses Grundgefühl. Die erste Begegnung des Menschen mit der Ehrlichkeit ist nach der Geburt: Lieben die Eltern ihr Kind vorbehaltlos? Wir kennen die Vorbehalte, die Kinder erwarten können: nur ein Mädchen, zur Unzeit gekommen, das Kind beeinträchtigt die berufliche Karriere, es ist behindert, es ist ein Schreikind oder ein kränkelndes Kind – kurzum, das Kind entspricht nicht der Vorstellung, die sich die Eltern von ihm gemacht haben. Es gibt Kinder mit einer bezaubernden Ausstrahlung und andere, die unliebenswürdig ins Leben treten. Sind Eltern ehrlich mit sich, wenn sie ihr Kind willkommen heißen? Sehen sie ihr Kind »als Zweck an sich selbst«, oder dient es ihnen als Mittel, um eigene Zwecke zu verfolgen? Vergleichen sie nicht sehr früh ihr Kind mit Kindern von Freunden und Verwandten? Welche Folgen hat das Vergleichen?
    Wer wenig Selbstvertrauen besitzt, ist dem Vergleichen eher ausgeliefert. Denn er tut sich schwer, sich so zu akzeptieren, wie er ist. Er wird sich selbst belügen, weil er nicht aushält, im Vergleich zu anderen schlecht abzuschneiden. Er wird andere belügen, weil er ein Bild von sich erzeugen will, das ihn mehr scheinen lässt, als er ist. Wer ein starkes Selbstwertgefühl besitzt, wird sich auch vergleichen, aber den Vergleich zum Anlass nehmen, besser zu werden. Wer in sich ruht, kann über die eigenen Unzulänglichkeiten lächeln.
    In dieser frühen Phase hat die Haltung der Ehrlichkeit ihren Ursprung. Ehrlichkeit ist daher kein angelerntes Verhalten, sie ist eher eine lebensbejahende Art zu existieren. Wer Urvertrauen nicht in der Kindheit entwickeln konnte, wird es sehr schwer haben, ein ehrlicher Mensch zu werden. Er wird auf Kontrolle und Strafe angewiesen sein, um sich und vor allem um andere vor seinen Lügen zu schützen.
    Auch wenn Ehrlichkeit eine lebensbejahende Art zu existieren ist, kann und soll jeder daran arbeiten, aus einem naiven Zustand der Ehrlichkeit eine reflektierte Haltung entstehen zu lassen. Naivität kann viel Unheil anrichten.
    So neigen ehrliche Menschen zuweilen dazu, mit Wahrheiten wie mit Steinen um sich zu werfen. Eine Freundin von mir besaß die unselige Eigenschaft, mir sofort zu sagen, wenn Hinz oder Kunz sich nachteilig über mich geäußert hatte. Sie begründete diesen Mitteilungszwang mit dem Argument, sie sei mir gegenüber zur Wahrhaftigkeit verpflichtet. Sie war in der Tat von erfrischender Ehrlichkeit. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass sie häufiger abgewogen hätte, ob ich einen Sachverhalt wissen muss, damit ich mich gegen üble Nachrede wehren kann, oder ob ihre Information nur kränkend und beunruhigend ist.
    Ehrliche sind oft naiv, weil sie darauf vertrauen, dass sie so verstanden werden, wie sie es meinen. Aber ehrliche Äußerungen können mehrdeutig, ungenau oder verkürzt formuliert sein oder aus dem Zusammenhang gerissen werden und so zu Missverständnissen führen und Gerüchte erzeugen. Im Mittelalter hatten Streitgespräche daher der Regel zu folgen, dass jeder das Argument seines Vorredners wiederholen musste und sich darüber hinaus bestätigen lassen musste, dass er das Gesagte richtig verstanden hatte. Dann erst durfte er darauf reagieren. Leider lässt sich diese kluge Regelung im Alltag nicht anwenden.
    Ehrlichkeit kann auch eine Geißel sein. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts propagierten Psychologen gruppendynamische Sitzungen ( sensitivity training nannte sich der Unsinn), um Einzelnen zu mehr Selbsterkenntnis zu verhelfen. In Gruppensitzungen sollten die Teilnehmer ehrlich mitteilen, wie sie die anderen sahen. Jede zweite Sitzung endete mit dem Zusammenbruch einzelner Teilnehmer, weil sie einander mit Lust vor allem verletzende Wahrheiten vorhielten. Ihre Selbsterkenntnis förderte der Zusammenbruch nicht.
    »Alles, was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles, was wahr ist, solltest du auch sagen«, lautet das bekannte Zitat des französischen Schriftstellers und Philosophen Voltaire. Wer ehrlich einem anderen die Wahrheit sagen will, sollte genau prüfen, ob der andere die Wahrheit verkraftet, aber auch, ob er die Wahrheit akzeptieren kann oder will. Einen anderen zu belehren, sicher wissend, dass die Belehrung ihn nur kränken, aber nicht bessern wird, ist töricht.
    Menschen, die sich um Ehrlichkeit bemühen, erwarten, auch ehrlich behandelt zu werden. Damit können sie jedoch nicht immer rechnen. Sie müssen dafür kämpfen wollen, dass der Lüge, wenn sie ihnen
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