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Die Lüge im Bett

Die Lüge im Bett

Titel: Die Lüge im Bett
Autoren: Gaby Hauptmann
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schüchtern, gibt sich einen Ruck und stellt sich dem verschworenen Produktionsteam. Allein gegen alle, denkt sie dabei, aber sie weiß aus Erfahrung, daß die meisten Produktionsleute weniger Probleme mit wechselnden Gesichtern haben. Eher mit Inkompetenz, zögerlichem Verhalten, unklaren Entscheidungen und vor allem mit Redakteuren, die eine Einstellung fünfmal wiederholen lassen, obwohl sie die Profis hinter der Kamera bereits für abgedreht erklärt haben.
    Nina beschließt, Zuversicht zu mimen, begrüßt jeden einzelnen mit Handschlag und erklärt allen kurz die Situation und ihre Funktion. Keinen wundert es, keiner hält sich darüber auf. Sie wird schon wissen, was sie zu tun hat.
    Und sie weiß es. Zumindest für den Augenblick. Sie braucht Informationen über das Land. In der Abflughalle erspäht Nina einen Buchladen und deckt sich dort mit allem ein, was nur entfernt nach Brasilien aussieht. Wenn man es ihr auch nicht ansieht: Aber in ihrem Magen zwickt und zwackt es, und je näher der Abflug rückt, desto stärker werden ihre Zweifel. Keine vierundzwanzig Stunden Vorbereitungszeit, keinen vergleichbaren Film eines erfahrenen Kollegen angeschaut, keinen blassen Schimmer vom Land, von den Leuten, vom Thema. Ihr Wissen beschränkt sich auf Lambada, Tanga und Zuckerhut. Ist der Tanga überhaupt aus Brasilien? Das Chaos ist vorprogrammiert, sie spürt es in jeder Faser ihres Körpers. Fast wünscht sie, Sarah wäre wieder gesund und würde doch noch in allerletzter Sekunde auftauchen.
    Aber keine Sarah, kein Entrinnen. Und dann ist es zu spät. Im Troß wird Nina ins Flugzeug geschoben und durch den schmalen Gang bis zu ihrer Sitzreihe gedrängt.
    Ein kleiner Trost, sie sitzt am Fenster! Gut, sagt sie sich, während sie sich an zwei Japanern vorbei zu ihrem Platz zwängt, sich in den schmalen Sitz sinken läßt und nach dem Sicherheitsgurt sucht, jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück, jetzt mußt du durch!
    Der Start durch die Wolkendecke hindurch berauscht sie. Gleißendes Sonnenlicht zerstreut alle Bedenken, die Erde ist unter gigantischen Wolkentürmen verschwunden.
    Nina atmet auf, lehnt sich zurück. Hier will sie bleiben, hier ist es gut. Als erstes bestellt sie sich ein Glas Sekt, danach studiert sie die Zeitungsausschnitte über Jugendliche in Rio. Das zentrale Thema in diesem Zusammenhang ist Gewalt. Mehr als 8000 Morde in einem einzigen Jahr, liest sie in einer Statistik, 48 Raubüberfälle und 646 Diebstähle auf 100000 Einwohner. Ihr fehlen die Vergleiche zu anderen Großstädten, aber die Zahlen kommen ihr gewaltig vor. Und dann stößt sie auf eine andere Information: Innerhalb von zehn Jahren wurden 6100 Kinder ermordet. Sie versucht sich diese Zahl bildlich vorzustellen. Es gelingt ihr nicht. Sie liest von dem Massaker an der Candelaria-Kathedrale in Rio. 1993 hatten dort mehrere Männer das Feuer auf siebzig schlafende Kinder eröffnet. Angeblich waren drei Militärpolizisten dafür verantwortlich. Acht Kinder starben. Der nächste Artikel beschreibt die Rolle der Kinder als Handlanger der Drogenbarone. Werden die Kinder erwischt, werden sie auf offener Straße erschossen. Mitten ins Gesicht, zur Abschreckung.
    Nina schließt die Augen und versucht in Gedanken eine klare Linie für ihren Film zu finden. Die beschriebenen tatsächlichen Fälle von Gewalt, Folter und Mord verdrängen in ihrem Bewußtsein das Bild vom tanzenden, durchtrainierten und gebräunten jugendlichen Luxuskörper. Sie hat sich einige Namen von Personen herausgeschrieben, Namen von Drahtziehern, tatenlos zuschauenden Politikern, mitschuldigen Polizeiorganen und von Mitgliedern verschiedener Hilfsorganisationen.
    Schließlich denkt Nina über Rollnitz nach. Keine Ahnung, wen oder was der organisiert hat. Irgendwie fühlt sie aber, daß er von diesem Elend und dem Unrecht nichts wissen will, sondern lieber eine heile Welt vorführt. Es hat sie stutzig gemacht, daß er gestern seine Unterlagen partout nicht nach Deutschland faxen wollte und beteuerte, sie hätten nach ihrer Ankunft noch genügend Zeit, alles zu koordinieren. Was sagte er noch wörtlich: »Schließlich habe ich ja bereits alles geregelt!«
    Dieses penetrante Gockelgehabe geht ihr schon jetzt auf den Nerv. Wahrscheinlich auch wieder so einer, der alle Fäden ziehen will. Und zwar in alle Richtungen. Überall groß rauskommen. Bei den Senderbossen in Deutschland und bei den Machthabern in Brasilien.
    Nina gähnt. Eine gefährliche Mischung. Und vor allem wird er
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