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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins
Autoren: Markus Preiter
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Zwangsarbeiter. Sie sind gezwungen, sich mit Angelegenheiten des Menschseins auseinanderzusetzen, von denen der noch Gesunde nur eine implizite Anschauung besitzt, aus der er seine eigentlich naiv begründete Unbeschwertheit speist. Psychisch Kranke leisten Zwangsarbeit in den Steinbrüchen des Lebens und benötigen bei der Explizitwerdung der anthropologischen Funktionsweise Begleitung
und Unterstützung von anderen Menschen. Psychiatrische Arbeit, wie auch die ganze Gesellschaft, kann nicht einfach an diesen Sinnfragen vorbeigehen und sie ausschließlich als Symptome diskriminieren. Und mit den Symptomen auch die von ihnen betroffenen Menschen. Psychiatrische Arbeit muss sich, jedenfalls dann, wenn sie sich selbst ernst nimmt, auch mit dem Menschsein generell beschäftigen. Sie muss Antworten darauf finden, was der Mensch eigentlich ist und wie er sich verstehen kann.
    Die Psychiatrie ist als Fachdisziplin aus der Philosophie erwachsen. Durch ihren unbedingten Ehrgeiz, eigenständig zu werden, wurde diese Verständniswurzel in einem fast zweihundertjährigen Verleugnungsprozess allerdings fast vollständig abgeschnitten. Psychiatrische Wissensanhäufung ist aber nicht nur medizinisch-naturwissenschaftliche Erkenntnissammlung. Sie ist auch, wenn sie die Kraft dazu aufbringt, naturalistische Philosophie. Naturalistische Philosophie bezogen auf ihre theoretisch möglichen Erkenntniskompetenzen, mögen diese auch noch so schwer zu tragen oder zu ertragen sein. Und gleichzeitig ist psychiatrische Arbeit immer praktische Lebensphilosophie. Praktische Lebensphilosophie bezogen auf ihre therapeutischen Möglichkeiten und Absichten. Sie könnte deshalb als einzige naturwissenschaftliche Disziplin in der Lage sein, realistische Modellvorstellungen zu entwerfen, die Auskunft in Selbsterkenntnis- und Selbststabilisierungsfragen des Menschen geben, von denen letztlich jeder profitieren kann.
    Dazu benötigt die Psychiatrie einen Verständnishintergrund, der einerseits naturwissenschaftlich fundiert ist und andererseits es auch erlaubt, aufgrund seiner Rahmenweite die unterschiedlichen Erkenntnisprozesse der psychiatrischen Tradition in sich aufzunehmen. Hierzu bietet sich, wie wir gesehen haben, die Evolutionstheorie an. Evolutionstheoretische Überlegungen sind die Brücke, die die Psychiatrie benötigt, um in einen Erkenntnisraum vorzustoßen, in dem die einzelnen, parallel arbeitenden psychiatrischen Modellvorstellungen in einem einzigen Integrationsmodell zusammengefasst werden können.
    Ein solcher Modellentwurf wurde hier versucht.

Die schlechte und die gute Nachricht
    Das Seelenlabyrinth ist ein Modell, welches zeigen kann, dass das menschliche Sein einem Phasenraum unterschiedlicher Ausdrucksweisen gleicht, in den die Betriebsstörungen namens Psychopathologien unweigerlich hineingehören. Sie gehören aufgrund unserer evolutionären Entstehung und unserer enormen Lernfähigkeit, die sich in jedem Menschen verschränken, als Risikooption unabwendbar zu uns, weshalb kein Mensch frei von der Gefahr ist, psychopathologisch zu dekompensieren. Das Seelenlabyrinth weist dabei Funktionsstrukturmerkmale auf, die auf den unterschiedlichen Ebenen der Weltund Selbstinterpretation zur Anwendung kommen. Die Fehlermöglichkeiten, die sich in ihrer Dringlichkeit unterscheiden, geben einen Inneneinblick in die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns. Viele dieser Arbeitsweisen sind Zitate unserer evolutionären Wegstrecke hin zum Menschen, einige sind proto- und humanspezifische Errungenschaften unserer eigenen Art. Allen ist gemeinsam, dass sie jeweilig durch einen enormen Lernanteil in der Individualentwicklung ergänzt werden und dies mit ihrer Treffsicherheit und ihrer Fehlerbereitschaft beim Kontakt mit der Welt in Verbindung steht.
    Dies ist die schlechte Nachricht dieses Buches. Zu erkennen, dass die Fragilität, die man bei anderen beobachten kann, auch in einem selbst lauert, ist sicherlich keine frohe Botschaft. Zu erkennen, dass unser Gehirn ein Illusionsprojektor ist, der nicht nur die Welt um sich herum (bei gesunder Funktionsweise realitätsnah) erfindet, sondern auch die eigene Existenz, und dass das eigene Sicherleben nichts anderes ist als eine Illusionsprojektion, hört man sicherlich nicht gerne und schreckt vielleicht auch den einen oder anderen ab und verursacht wohl deshalb einen einzuhaltenden Sicherheits- und Erkenntnisabstand, der die offensichtlichen Tatsachen verleugnen hilft. Die Ambivalenz gegenüber der
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