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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie
Autoren: Andrew Nicoll
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beim Bürgermeister gewesen war, dass eine Schulklasse das Rathaus besichtigt hatte, dass der Hut des Polizeichefs vom Schreibtisch gefallen und in Peter Stavos Bleicheeimer gelandet und weiß wie ein Nonnenschleier wieder herausgekommen war, und dann lachten sie.
    Sobald Stopak gegessen hatte, stand Agathe Abend für Abend von ihrem Platz auf, lüpfte ihren Rock und setzte sich auf seinen Schoß, um ihn zu umarmen, an den Haaren zu ziehen und immer wieder zu küssen, bis sie ins Bett fielen und – irgendwann – einschliefen, denn das schmutzige Geschirr konnte bis zum nächsten Morgen warten. Damals hatte sie ihn geliebt. Sie liebte ihn immer noch, aber auf andere Art. Nichtauf jene Art. Heute liebte sie ihn, wie man einen alten, blinden Hund lieben würde. Es war die Art von Liebe, die nicht einmal groß genug ist, um einen zum Gewehr über dem Kamin greifen und den Gnadenakt geschehen zu lassen.
    Sie liebte ihn, weil er der erste Mann war, den sie je geliebt hatte, der einzige, mit dem sie das Bett geteilt hatte, und das bedeutete einer Frau wie Agathe viel. Sie liebte ihn, weil sie zusammen eine wunderbare Tochter gemacht hatten und Stopak damals, vor vielen Jahren, wie eine Vogelscheuche an der kleinen Wiege gestanden und in der Trauer um ihr totes Kind geweint und geschrien hatte. Sie liebte ihn, weil sein Geschäft nicht lief und er gebrochen und bemitleidenswert war. Sie liebte ihn, wie man einen alten Teddy aus Kindertagen liebt – nicht für das, was er war, sondern für die Erinnerung an ihn und was er ihr bedeutet hatte. Aber so sollte man einen Mann nicht lieben.
    Stopak wiederum liebte Agathe nicht so, wie es eine Frau wie Agathe verdient hätte. Er hatte sie seit dem Tag, als sie ihr Baby beerdigt hatten, nicht mehr berührt. Er war vom Friedhof nach Hause gekommen, immer noch gebeugt vom enormen Gewicht des winzigen, weißen Sarges und mit dunkler Erde an den Hosenaufschlägen, und als die Tür hinter dem letzten Trauergast zugefallen war, hatte er sich weinend in einen Sessel sinken lassen.
    Agathe war zu ihm gegangen, um ihn sanft auf den Scheitel zu küssen. Sie hatte seine Hand genommen, die sich anfühlte wie ein toter Fisch. «Schsch», tröstete sie und drückte seinen Kopf an ihren Spinnakerbusen. «Schschsch, wir haben noch so viel Zeit. Wir werden wieder glücklich sein. Wir können noch Kinder bekommen. Andere Kinder.» Tränen tropften von Agathes Kinn. «Keines wird sein wie sie. Es werden andereKinder sein, die wir lieben und denen wir von der großen Schwester im Himmel erzählen können. Nicht jetzt. Aber schon bald.»
    Doch Stopak lag da wie ein gefällter Baum und brachte schluchzend seine Ablehnung zum Ausdruck: «Nein. Nie wieder. Kinder. Keine. Mehr. Nie. Wieder.» Er meinte es ernst. Das Leben in der kleinen Wohnung veränderte sich. Stopak kam immer öfter spät von der Arbeit nach Hause. Das Essen, das Agathe für ihn gekocht hatte, vertrocknete im Ofen oder wanderte verkohlt in den Mülleimer neben der Spüle. Aber sie liebte ihn. Sie würde ihn retten, deswegen wartete sie jeden Abend in der Küche, bis er kam, egal, wann er kam, und sie aß sich zusammen mit ihm durch die ruinierten, angebrannten Mahlzeiten. Er aß alles kommentarlos, so als schaufele er Koks in einen Ofen. Einmal versuchte sie, ihn mit einer Suppe zu locken, ein anderes Mal mit Kirschkuchen, dann mit Lammkoteletts, aber er aß immer schweigend. Genauso gut hätte sie alles in einen Trog werfen und vor ihm auf den Tisch stellen können.
    Am nächsten Abend gab Agathe wieder ihr Bestes und eilte mit zwei Fasanen nach Hause. In der Küche trennte sie die Brüste heraus und wickelte sie in dicke Scheiben eichengeräucherten Schinkenspecks ein. Während das Fleisch schmorte, schälte sie Möhren, kochte Kartoffeln und deckte den Tisch. Das Essen war fertig, als Stopak heimkam, und er aß es wie Haferschleim.
    Agathe sah ihn erbost und ungläubig an und raufte sich das volle, schwarze Haar, bis sie es sich vor lauter Enttäuschung fast ausriss. «Um Himmels willen, Stopak!», schrie sie. «Sag doch wenigstens: ‹Das war lecker›, oder sonst irgendwas!»
    «Das war lecker», sagte Stopak, zog die Abendzeitung ausseiner Jacke, die an der Stuhllehne hing, schlug sie auf und fing an zu lesen.
    Agathes Herz war gebrochen, aber aufgeben wollte sie dennoch nicht. Sie war eine Frau und kannte den Appetit der Männer. Und ganz besonders Stopaks.
    Am nächsten Tag, als die Glocken der Kathedrale die Mittagspause
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