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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie
Autoren: Andrew Nicoll
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bleiben. Sankt Walpurnia, die, so steht es geschrieben, in das Feldlager der Hunnen gerannt war und geschrien hatte: «Nehmt mich! Nehmt mich!» Die bestialischen Hunnen, anstatt sich am behaarten Fleisch ihrer Nutztiere zu befriedigen, machten die arme, lammfromme Walpurnia zu ihrem Spielzeug. Als sie viele Stunden später mit dem Ruf «Oh Gott, oh Gott, oh Jesus!» verstarb, soll sich der Legende nach kein einziger Kratzer an ihrem gesamten warzigen Körper befunden haben. Zum weiteren Zeichen seiner großen Güte hatte Gott ihr einen Herzinfarkt geschenkt, und als man ihren Leichnam fand, war unter
ihrem seidigen Schnurrbart ein seliges Lächeln zu erkennen, das darauf schließen ließ, dass sie längst ins Paradies eingetreten war.
     
    Zumindest sagt meine Legende es so.
     
    Im Jahr X, als A.   K.   Gouverneur in der Provinz R. war und der gute Tibo Krovic seit fast zwanzig Jahren Bürgermeister des Städtchens Dot, hatte ich dort schon seit zwölfhundert Jahren als stille Beobachterin ausgeharrt.
    Ich bin immer noch hier, auf der obersten Spitze der höchsten Zinne der mir geweihten Kathedrale. Gleichzeitig – und ohne dass ich eine Erklärung dafür hätte – stehe ich weit, weit darunter auf einem Sockel vor der geschnitzten Säule, welche die Kanzel trägt. Außerdem throne ich auf einem Schutzschild über dem Rathauseingang, bin auf alle Außenflächen der Trambahnen gemalt, hänge an der Wand des Bürgermeisterbüros und bin auf jedes Schulheft gedruckt, das auf jedem Tisch in jedem Klassenzimmer in ausnahmslos jeder Schule von Dot liegt. Ich hänge als Gallionsfigur am Bug der kleinen, verdreckten Fähre, die gelegentlich aus Dash eintrifft, den lächerlichen Bart von Salz verkrustet und mit einem Stoßfänger aus gewobenem Hanf umkränzt, der wie ein Pferdegeschirr aussieht.
    Die Damen von Dot tragen mich als bunte Karte in ihren Handtaschen herum, ich funkele im Sonnenlicht, wenn sie von Schaufenster zu Schaufenster ziehen, ich schlummere in kupferklingelnder Dunkelheit zwischen Haarlocken, Babyzähnen und zum Andenken aufbewahrten Eintrittskarten. Ich hänge über Betten – von wilder Leidenschaft zerwühlten Betten, vor Indifferenz kalten Betten, Kinderbetten mit wohlgenährten, friedlich schlafenden Säuglingen, Betten mit spindeldürren Sterbenskranken.
Und ich liege hier, im Herzen der Kathedrale, als nackte Knochen und vertrockneter Knorpel in uralten, morschen Seidenstoff gewickelt. Vor meinem mit Gold und Juwelen prunkvoll verzierten, emailleglänzenden Pavillon haben Könige und Prinzen gekniet, um tränenreich Buße zu tun, unfruchtbare Königinnen haben Fürbitten geschluchzt, und die Leute von Dot sind gekommen, um mir Gesellschaft zu leisten. Ich kann es nicht erklären. Ich kann es nicht erklären, weil ich selbst nicht verstehe, wie ich immer und überall zugleich sein kann.
    Ich kann, wenn ich es so wünsche, an allen Orten gleichzeitig sein, unverdünnt, nicht um ein Atom verkleinert, allerorten und allwissend. Ich beobachte. Ich beobachte die Ladenbesitzer von Dot und die Polizisten, die Landstreicher, die glücklichen Menschen und die traurigen, die Katzen, die Vögel, die gelben Hunde und den guten Bürgermeister Krovic.
    Ich habe ihn beobachtet, als er die grüne Marmortreppe zu seinem Büro hinaufstieg. Die Treppe gefiel ihm, sein Büro gefiel ihm. Ihm gefielen die dunkle Holzvertäfelung und die hohen, mit Läden versehenen Fenster, die auf den Rathausplatz mit dem Brunnen und die sich dahinter erstreckende Schlossstraße hinausgingen, an deren Ende sich meine weiße Kathedrale mit dem kupferroten Zwiebeldach erhob, in die er jedes Jahr die Ratsversammlung zur Segnung führte. Ihm gefiel sein bequemer Ledersessel. Ihm gefiel das Wappen an der Wand, das eine lächelnde, bärtige Nonne zeigte. Und am allerbesten gefiel ihm seine Sekretärin, Frau Stopak.
    Agathe Stopak war alles, was ich, die heilige Walpurnia, nicht war. Ja, sie war mit langem, dunklem, glänzendem Haar gesegnet, aber nicht am Kinn. Und ihre Haut erst! Weiß schimmernd, sahnig, vollkommen warzenfrei. Und obwohl Frau Stopak mir, wie es sich für eine Frau des Städtchens Dot gehörte, die
angemessene Ehrerbietung erwies, übertrieb sie es dabei nie. Im Sommer hockte sie auf ihrem Bürostuhl am Fenster wie ein draller Kranich, in ein hauchdünnes, geblümtes Kleid gehüllt, das in der Hitze an ihren Rundungen kleben blieb oder sich in der lauen Brise wölbte, die zum Fenster hereinwehte.
    Im Winter kam Frau
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