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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie
Autoren: Andrew Nicoll
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Fotografie von Tibos Vater – nicht dem Vater, den Tibo gekannt hatte, sondern von einem gutaussehenden, glücklichen, jungen Mann. Tibo stupste den Rahmen mit dem Finger an, bis er von der Kommode fiel und mit dem Fotogesicht nach unten auf dem Teppich landete. Er trat mit dem Absatz darauf, bis er das Glas knacken hörte, dann verließ er das Zimmer, um zu packen.
    Tibo nahm nur solche Kleidungsstücke mit, wie ein Mann sie für einen entspannenden Angelausflug nach Dash brauchen würde. Er ließ die Anzüge im Schrank und die Krawatten an der Stange hängen. Für den Bürgermeister von Dot war in Tibos Seesack kein Platz.
    Um sechs bereitete Tibo Rührei auf Toast zu, das er mit Agathe teilte, indem er sie von seinem Teller fütterte. Halb sieben stand das Geschirr in der Spüle, und Tibo saß auf dem Sofa und starrte aus dem Fenster. Das schwarze Taxi warf einen langen Schatten voraus, als es um die Ecke bog. Tibo hörte, wie es vom Kiosk die Straße heruntergerattert kam, dasselbe eindringliche Klopfen hatte ihn in seinen Albträumen verfolgt. Schließlich stoppte das Taxi mit einem letzten Furz am Gartentor. Der Fahrer, ein schlanker, hochgewachsener Mann, den Tibo vor vielen Jahren beim Konzertfrühstück gesehen hatte, stieg aus und schaute düster zum Haus hinauf. Er nahm sich die Chauffeursmütze mit der silbernen Plakette vom Kopf und warf sie auf den Fahrersitz. Er nickte Tibo ein letztes Mal zu, zog die Schultern ein und ging davon.
    «Es ist so weit», sagte Tibo. «Warte im Flur, bis ich dich rufe.»
    Tibo trug zwei dicke Wolldecken über den blaugekachelten Pfad und warf sie in das Taxi. Er ließ die Wagentür offen stehenund ging zum Haus zurück, wo Agathe im Flur saß. «Die Straße ist menschenleer», sagte er, «lauf!»
    Tibo nahm seinen Seesack und Agathes Kleiderbündel und sah zu, wie Agathe in den Wagen sprang. Sie saß auf den Wolldecken auf der Rückbank und spähte zu ihm herauf, während er die Haustür abschloss und das Gepäck durch den Vorgarten trug, sich die Chauffeursmütze aufsetzte und so getarnt losfuhr.
    «Die Glocke weint», sagte Agathe.
    «Ich weiß. Ich kann es hören.» Tibo bog in die Cervantesstraße ein und fuhr auf den Hafen zu, und wenige Minuten später stand das Taxi auf der Fähre nach Dash und tuckerte am Leuchtturm vorbei. Tibo umklammerte das Lenkrad. Er rührte sich nicht vom Platz. Er hatte sich die geborgte Mütze tief ins Gesicht gezogen. Er hielt den Kopf gerade, aber im Rückspiegel sah er Dot, das langsam hinter ihm verschwand. Es wurde kleiner und kleiner, blasser und grauer und nebeliger, bis es die Farbe der See angenommen hatte und in den Wellen versank und nichts mehr zu sehen war als die blassgrüne Kuppel der Kathedrale und dann nur noch ich, die kurz golden aufblitzte und dann verschwand wie das Krähennest eines sinkenden Frachtschiffs.
    Sobald Dot verschwunden war, starrte Tibo geradeaus in die Gischt, bis Dash sich aus dem Meer erhob. Erst waren die dünnen, grauen Rauchwolken der Räuchereien zu erkennen, und dann trug der Wind einen unverwechselbaren Fischgeruch heran; Schornsteine stachen aus den Wellen, dann rote Dächer, weiße Häuser und bald der Hafenkai, wo die Fähre anlegte.
    Der gute Bürgermeister Krovic nahm die Broschüre, die Yemko ihm gegeben hatte, breitete sie über dem Lenkrad ausund hielt sie mit zwei Daumen fest. Der Weg führte ihn durch die engen Straßen der Innenstadt von Dash und auf der anderen Seite wieder hinaus, wo der Asphalt stotternd in einen festgestampften Sandweg überging, der sich zwischen behaarten Dünen hindurch bis an die Spitze der Insel schlängelte. Es war das Ende der Welt – ein winziges Gasthaus am Ende eines verlassenen Strandes, hinter dem sich der Horizont erstreckte, und darüber nichts als der Himmel.
    Tibo lenkte das klapprige Taxi in den Hinterhof, wo ihn bereits ein geöffnetes Scheunentor erwartete. Er baute Agathe ein Nest aus Decken und gab ihr einen Kuss. «Ich bin in ein paar Stunden zurück», erklärte er. «Sei ganz still. Sei still und versuch zu schlafen. Dann vergeht die Zeit schneller.»
    Er vergewisserte sich, dass alle Fenster verdeckt waren, und er hatte kaum das Scheunentor geschlossen, als eine dicke, schwarzgekleidete Frau auf den Hof kam. «Sind Sie Herr Krovic?», fragte sie. «Wir haben Sie erwartet.»
    Es war das erste Mal in dreiundzwanzig Jahren, dass man ihn einfach nur mit «Herr» Krovic angeredet hatte, und es dauerte so lange wie ein Lächeln, bis er
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