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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie
Autoren: Andrew Nicoll
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den Rücken und rubbelte sich an der mit trockenem Laubdurchsetzten Erde das Fell sauber. Sie hatte das Gefühl, aus einem langen Traum aufzuwachen, in dem sie sich für eine Frau gehalten hatte, die erwachsen wurde, sich eine Stelle suchte, die lebte und liebte und sich glücklich und traurig fühlte – sehr traurig sogar   –, und dann, gerade als der Traum nicht mehr auszuhalten war, war sie wieder zu sich gekommen und in ihrem echten Hundeleben aufgewacht. Sie war erleichtert und zufrieden, und sie wunderte sich über sich selbst und das Leben, das sie geführt hatte. Als sei sie im Spiegelkabinett eines Jahrmarkts aufgewachsen, und erst jetzt, unter einem schattigen Busch, sah sie die Welt zum ersten Mal, wie sie war, unverzerrt und unverfälscht.
    Agathe rollte sich auf den Bauch. Sie konnte die warmen Sonnenstrahlen überall dort auf ihrer Haut spüren, wo der Sonnenschirm aus Blättern durchlöchert war. Die Fliege hatte sich wieder auf ihr Ohr gesetzt, aber diesmal ließ sie sie gewähren. Vom Nachbargrundstück kam das Brummen eines Rasenmähers herüber. Langsam döste Agathe ein.
    Als Tibo in sein altes Haus am Ende des blaugekachelten Pfades zurückkam, lief er in die Küche und rief ihren Namen. Er entdeckte die offene Hintertür, ging in den Garten und setzte sich ins Gras, um Agathe zu beobachten und sich an ihr zu erfreuen. Er zog einen Ingwerkeks aus der Tasche und brach ihn durch. Das Geräusch weckte Agathe.
    «Möchtest du einen?», fragte er.
    «Ich kann mich an diese Kekse erinnern», sagte sie, als gehörten die Ingwerkekse und das Rathaus in eine Jahre zurückliegende Zeit, die nichts mit vorgestern und mit Peter Stavos Kabine zu tun hatte.
    Er bot ihr einen zweiten an. «Agathe, ich werde bald verreisen.»
    «Ja, aber du nimmst mich doch mit, oder?»
    «Wenn du möchtest. Ja, das würde mich freuen.»
    «Dann ist es abgemacht.»
    «Ja, Agathe, dann ist es abgemacht.» Er steckte sich einen Ingwerkeks zwischen die Lippen, und Agathe biss davon ab.
    «Lass uns jetzt hineingehen, Agathe.»
    Tibo ging zur Küchentür, und Agathe folgte ihm kurze Zeit später. Schweigend saßen sie in der Küche, Tibo am Tisch und Agathe darunter, als es gegen zehn an der Haustür klingelte.
    «Bleib hier», sagte Tibo.
    Er lief zur Tür und öffnete dem keuchenden Yemko, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. «Einen Stuhl, um Gottes willen, Krovic, bringen Sie mir einen Stuhl!», japste er.
    Tibo rannte in die Küche und kam mit einem Holzstuhl zurück, der leise ächzte, als Yemko sich setzte. Als er die Haustür schloss, entdeckte Tibo Yemkos übergroßes Taxi, einem Leichenwagen gleich, das auf gebrochenen Stoßdämpfern im gelben Licht der Straßenlaterne stand und wummernd wartete.
    «Was kann ich Ihnen anbieten?», fragte er.
    Yemko schüttelte den Kopf. Er saß halb zusammengesackt und mit baumelnden Armen auf dem quietschenden Küchenstuhl, den Anwaltskoffer zu seinen Füßen, bis Agathe entgegen anderslautender Anweisung aus der Küche geschlichen kam, vorsichtig an Yemkos Fingern schnüffelte und sie ableckte.
    Yemko schaute lächelnd auf sie hinunter. Er sagte: «Vor langer Zeit habe ich einer netten Dame meine Freundschaft versprochen. Leider müsste ich sie, wäre sie heute hier, den Behördenübergeben. Du hingegen», er strich Agathe über den Kopf, «erinnerst mich an ihren Liebreiz und an ihre charmante Art, obwohl du ganz offensichtlich nur eine Hündin bist.»
    Agathe antwortete nicht, aber sie erwiderte Yemkos Blick, bis er sagte: «Du lieber Gott, Krovic, hat der Bürgermeister von Dot keinen bequemeren Stuhl und keinen Weinbrand im Haus?»
    Tibo ging voran ins Wohnzimmer, wo Yemko sich mit einem randvollen Weinbrandglas auf die gesamte Breite des Sofas sinken ließ. Er schien sich vollkommen zu Hause zu fühlen, und als Tibo die Vorhänge zuziehen und das Licht einschalten wollte, zischte er: «Lieber nicht, alter Freund. Lassen Sie alles so, wie es ist.»
    Yemko öffnete seinen Aktenkoffer und zog einen kleinen Schneesturm aus Papier heraus. «Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie in Virgule völlig unbekannt sind, Herr Bürgermeister?»
    Tibo nickte. «Ich war nie dort», sagte er.
    «Na, wunderbar.» Yemko reichte das erste Dokument hinüber. «Dies ist Ihr sechs Monate rückdatiertes Testament zugunsten Ihres Alleinerben, eines gewissen Gnady Vadim, Handelsreisender, wohnhaft in der Mazzinistraße Nummer 173 in Virgule. Ich werde darin als Ihr Testamentsvollstrecker
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