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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie
Autoren: Andrew Nicoll
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benannt und beauftragt, dieses Haus samt Einrichtung zu verkaufen und den Gewinn sowie sämtliche Pensionsansprüche an den ehrenwerten Gnady weiterzuleiten. Alles ist ordnungsgemäß bezeugt und notarisiert. Lediglich Ihre Unterschrift fehlt.»
    Yemko zog einen dicken, schwarzen Tintenfüller aus seiner Hemdtasche und wedelte mit weiteren Papieren, die in seinerlinken Hand steckten. «Diese Dokumente weisen Sie zweifelsfrei als Gnady Vadim, wohnhaft in der Mazzinistraße Nummer 173 in Virgule, aus. Dies» – Yemko wedelte mit einem kleinen, blaueingebundenen Buch – «ist sein Sparbuch, und dies» – in seiner Hand klingelte es silberhell – «sind die Schlüssel zu Ihrer Wohnung in der Mazzinistraße 173.»
    Der gute Bürgermeister Krovic wollte etwas sagen, aber Yemko brachte ihn mit einem Augenbrauenzucken zum Schweigen. «Unterbrechen Sie mich nicht», sagte er. «Morgen früh um sieben Uhr wird mein Taxi vor Ihrem Gartentor warten. Der Fahrer wird aussteigen. Sie und eine Begleitperson Ihrer Wahl werden einsteigen und den Wagen mit heruntergezogenen Rollos auf die Fähre fahren, die um halb acht in Richtung Dash ablegt. Auf der Fähre werden Sie und Ihre Begleitperson den Wagen zu keiner Zeit verlassen. Sie werden mit niemandem sprechen. Sobald Sie in Dash angekommen sind, werden Sie zu diesem Hotel fahren» – Yemko reichte Tibo eine Broschüre   –, «wo ein Zimmer auf Ihren Namen und ein Garagenplatz für den Wagen reserviert ist. Sie werden allein aufs Zimmer gehen, Ihre Begleitperson wird im Taxi bleiben. Sie werden zu Abend essen und danach ein sehr kleines, furchtbar zerbrechliches Boot besteigen, das man Ihnen für einen entspannenden, nächtlichen Angelausflug bereitstellt – ein Ausflug, der tragisch enden wird, denn Sie und Ihre Begleitperson werden nie zurückkehren.»
    «Nie zurückkehren», wiederholte Tibo verständnislos.
    «Nie, denn wenn Sie den hier benutzen» – eine weitere, gezierte Geste, und Yemko hielt einen Taschenkompass in der Hand – «und die ganze Nacht hindurch rudern, werden Sie mit etwas Glück am nächsten Morgen in Virgule ankommen. Das Boot versenken Sie und Tibo Krovic gleich mit. Sie gehenals Gnady Vadim an Land und marschieren in nassen Stiefeln bis zur Mazzinistraße 173.   Dort leben Sie für etwa einen Monat mit der Begleitperson Ihrer Wahl zusammen – auf dem Sparbuch ist genug Geld   –, und kurze Zeit später werden Sie Ihren armen Cousin Tibo beerben. Danach verschwinden Sie einfach.»
    Nach einer langen Woche unzähliger Überraschungen war der gute Tibo Krovic überraschter denn je. «Ist das legal?», fragte er.
    «Der arme, arme Tibo Krovic. Der arme, gute Tibo Krovic macht sich immer noch Gedanken über die Frage, was legal ist, anstatt sich zu fragen, was das Richtige ist. Ist es Ihnen wichtig? Macht es einen Unterschied? Ist das legal? Nein, natürlich ist das nicht legal! Aber Sie hätten eine andere Frage stellen sollen: ‹Hält es einer gerichtlichen Überprüfung stand?›, dann hätte ich gesagt: ‹Ja, das garantiere ich.› Und jetzt unterschreiben Sie bitte.»

 
    DER ARME TIBO lag die ganze Nacht wach und schalt sich dafür, vor der langen Reise nach Virgule nicht genug Schlaf zu bekommen. Er schalt sich für seine zweite offizielle Lüge, und er lauschte den Atemzügen von Agathe, die auf seinem Arm lag und schlief. Sie veranstaltete eine Sinfonie aus Murmeln und Zucken und Jaulen und setzte zu seltsamen Sprüngen über das Bett an. «Hasenjagd», so nennt man das. Er küsste sie sanft auf den Kopf und starrte weiter in die Dunkelheit.
    Um vier schlief Tibo ein. Um fünf klingelte der Wecker, und Tibo wachte erschöpfter als je zuvor auf. Agathe schlief weiter.
    Tibo stand allein in der Küche, kochte Kaffee und hörte dem Vogelgesang im Garten zu. Mit der Tasse in der Hand lief er durchs Haus, um sich von seinen Habseligkeiten zu verabschieden, von den Büchern, von den Möbeln, die ihm bis heute egal gewesen waren, von den Dekorationsstücken, die ihn sentimental machten, die ihn an dieses Haus banden, an seine Kindheit, an Dot. Er musste fort, und er musste alles zurücklassen.
    Tibo öffnete die Tür zum früheren Zimmer seiner Mutter, er betrachtete das kalte Bett, in dem seit Jahren niemand geschlafen hatte, die niemals geschlossenen Vorhänge, das Bild von mir mit einem gestrüppartigen Bart. Alles war ruhig und friedlich, ruhig und friedlich und klamm und verstaubt.Auf der Frisierkommode stand eine winzige, gerahmte
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