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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie
Autoren: Andrew Nicoll
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nicht.»
    «Dann lass uns fahren.»
    Tibo packte das Seil am Vorschiff, zog das Boot in die Wellen und stieß sich vom Sand ab. Wenn Agathe zuschaute, war es irgendwie etwas anderes, als wenn die Gäste des Hotels zuschauten. Sie hatten ihn nervös gemacht, Agathe hingegen schenkte ihm Selbstvertrauen. Sie hatten ihm Misserfolg gewünscht, Agathe wünschte ihm Erfolg. Er legte Yemkos Taschenkompass vor sich auf die Planken, schaute hinauf zu den Sternen und legte sich in die Riemen.
    «Der Kauz und die Katze wagten sich auf See», sang Tibo. Er sang das ganze Lied, bis hin zu «im hellen Mondenschein», und Agathe liebte ihn dafür.
    «Aber ich bin keine Katze», wandte sie ein.
    «Nein, und ich bin kein Kauz.»
    «Oh doch, Tibo, das bist du!»
    So ging es zu, als sie die Nacht hindurch ruderten.
    Vielleicht sollte es über eine nächtliche Überfahrt in einem offenen Boot mehr zu erzählen geben, ganz besonders in einer Geschichte, die sich seitenlang mit einem Konzert im Park beschäftigt hat oder mit dem umständlichen Weg, den eine bestimmte Postkarte von einem Briefkasten auf dem Rathausplatz nahm, hinein in die Hauptpost und wieder zurück. Keines dieser Ereignisse war von Interesse oder besonders abenteuerlich, und da jedermann unschwer erkennen kann, dass wir uns dem Ende der Geschichte nähern, denken Sie vielleicht, die Überfahrt nach Virgule verdiene etwas mehr Aufmerksamkeit. Vielleicht haben Sie sogar recht. Aber die Wahrheit ist, dass das Meer sehr eintönig sein kann. Es tendiert dazu, eher flach zu sein, und wiederholt sich oft – im Normalfall folgt eine Welle auf die andere, und bei diesem Vorgang ähneln sie sich ganz ungemein in Form und Farbe und Größe, ganz besonders nachts, und Nacht haben wir hier schließlich gerade.
    Jedenfalls geht es in dieser Geschichte mehr ums Erzählen an sich als um irgendeine Handlung, und so können wir uns vielleicht darauf einigen, dass sich die nächste Zeit nicht viel ereignete, bis Tibo um kurz nach Mitternacht, als er drei Stunden lang pausenlos gerudert hatte, langsam wirklich sehr müde wurde.
    Tibo war kein Ruderer, sondern der Bürgermeister von Dot. Er hatte niemals vorgegeben, besonders sportlich zu sein, und er hatte keine Ahnung, wie weit er noch zu rudern hätte, außer dass ihm der Anwalt Yemko Guillaume, der zuFuß kaum einen Gartenpfad bewältigen konnte, gesagt hatte, er würde sein Ziel bis zum nächsten Morgen erreicht haben. Tibos Arme schmerzten, und die Haut an seinen Händen schlug Blasen. Er ertappte sich immer öfter dabei, wie er pausierte, nur, um «einen Blick auf den Kompass zu werfen», und er begann sich zu fragen, ob Yemko sie womöglich in den Tod geschickt hatte. Wenn man einen Gnady Vadim erfinden konnte, der sein Haus erben würde, könnte man genauso gut einen zweiten erfinden, oder? Tibo dachte an den finsteren Blick des Taxifahrers – war er nicht der ideale Komplize? – und ruderte weiter.
    Aber noch bevor er ein weiteres Mal innehalten und den Kompass konsultieren konnte, knirschte Sand unter dem Kiel. Und weil die Hoffnung immer stärker ist als der gesunde Menschenverstand, ignorierte er seine Wahrnehmung und ruderte einfach weiter. Das Boot hing fest. Tibo ruderte weiter, bis seine Ruder sich in den Sand bohrten.
    «Sind wir schon da?», fragte Agathe, obwohl sie es besser wusste.
    «Ich glaube nicht», sagte Tibo, obwohl er sicher wusste, dass es nicht so war.
    Es gab nichts zu sehen. Tibo stand auf, um einen besseren Überblick zu haben, und im selben Moment kam der Mond aus seiner Wolkendeckung hervor und zeigte ihm eine riesige, glatte, elliptische Wasserfläche, die von wütend schäumenden Wellen gesäumt war.
    «Wir sind auf eine Sandbank aufgelaufen», erklärte er. «Das macht nichts. Wir stoßen uns ab und rudern drumherum.»
    Aber als Tibo ausgestiegen war und schieben wollte, neigte sich das Boot stark zur Seite. Im selben Moment nahm am anderen Ende der Sandbank eine Welle Anlauf, sie kam angerolltund wurde größer und böser, bis sie in das Boot einfiel und als träger, grauer, kalter Wasserklumpen liegen blieb. Tibo wurde umgerissen und fiel ins Wasser. Die Kälte ließ ihn nach Luft ringen. Das Wasser drang in jede Faser seiner Kleidung und zog an ihm wie schwere Ketten, und bis er wieder auf den Füßen war, hatte Welle um Welle das Boot überspült und gefüllt. Es ruckte beängstigend und bohrte sich immer tiefer in den Sand, und Agathe hockte im Heck auf der Ruderbank und heulte: «Tibo,
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