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HMJ06 - Das Ritual

HMJ06 - Das Ritual

Titel: HMJ06 - Das Ritual
Autoren: F. Paul Wilson
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    Die Braut trug Weiß.
    Nur war sie keine Braut, und das Kleid – mindestens zwei Nummern zu klein – war vergilbt und wirkte eher beige.
    »Darf ich noch mal fragen«, sagte Jack und beugte sich zu Gia hinüber, »weshalb unsere Gastgeberin ihr Brautkleid trägt?«
    Gia, die neben ihm auf dem ziemlich ramponierten Sperrmüllsofa saß, trank aus ihrem Plastikbecher einen Schluck Weißwein. »Du darfst.«
    Ein zwangloses Beisammensein, hatte Gia ihm angekündigt. Einige ihrer Kunstfreundinnen wollten sich im Loft eines umgebauten Lagerhauses am Rand des alten Army Terminals in Brooklyn treffen und eine kleine Party für eine von ihnen veranstalten, die im Begriff war, erste große Erfolge zu verzeichnen. Komm doch mit, hatte sie gesagt. Es wird sicher ganz spaßig.
    Jack war aber zu Spaßen nicht aufgelegt. Das war er schon seit einer ganzen Zeit nicht. Doch er hatte sich bereit erklärt mitzugehen. Gia zuliebe.
    Etwa zwanzig Personen wanderten in der Halle herum, während das neueste Album von Pavement aus einem Ghettoblaster dröhnte. Die Musik wurde als Echo von der hohen Decke, den riesigen Fenstern und den kahlen Mauern zurückgeworfen. Die Gäste hatten Haarfarben, die das gesamte sichtbare Spektrum überspannten, Haut, die entweder gepierct oder tätowiert oder beides war, sie trugen Kleider, die auf dem Bizarrometer weit im roten Bereich rangierten.
    Dabei dauerte es bis Halloween noch ganze zwei Monate.
    Jack trank einen Schluck aus seiner Bierflasche. Er hatte sein eigenes Bier mitgebracht und dabei entschieden, auf seine üblichen Rolling-Rock-Langhals­flaschen zugunsten eines Sechserpacks Harp zu verzichten. Das war auch gut so. Die als Braut ausstaffierte Gastgeberin hatte einen Vorrat Bud Light bereitgelegt. Jack hatte noch nie mit Wasser verdünnte Kuhpisse gekostet, aber er stellte sich vor, dass sie wahrscheinlich noch besser schmeckte als Bud Light.
    »Na schön. Warum trägt unsere Gastgeberin ihr Brautkleid?«
    »Gilda war nie verheiratet. Sie ist eine Künstlerin, Jack. Sie will mit dem Kleid etwas aussagen.«
    »Was denn? Ich erkenne nichts anderes darin als den Ausruf Seht mich alle an!«
    »Bestimmt würde sie dir erklären, das zu entscheiden, bleibe jedem Einzelnen überlassen.«
    »Okay. Dann habe ich entschieden, dass sie Aufsehen erregen will.«
    »Ist das so schlimm? Nur weil du offenbar eine regelrechte Todesangst vor Aufsehen hast, ist es für andere Leute doch nichts Schlechtes, sich darum zu bemühen.«
    »Ich habe keine Todesangst davor«, brummelte Jack und wollte auf keinen Fall zugeben, dass Gias Einschätzung zumindest ansatzweise zutraf.
    Eine hoch gewachsene schlanke Frau ging an ihnen vorbei. Ein fahlweißer Streifen verlief an der Seite quer durch ihr krauses, nach hinten frisiertes schwarzes Haar.
    Jack deutete mit einem Kopfnicken auf sie. »Ich weiß, was sie verkünden will: Ihr Mann ist ein Monster.«
    »Karyn ist nicht verheiratet.«
    Ein junger Mann mit gegelten, leuchtend gelben Haaren schwebte vorbei. Jede seiner Augenbrauen war mit mindestens einem Dutzend goldener Ringe gepierct.
    »Hi, Gia«, sagte er, winkte kurz und ging weiter.
    »Hi, Nick.«
    »Lass mich mal raten«, murmelte Jack. »Als Kind wurde Nick immer mit einer Gardinenstange verprügelt.«
    »Mein Gott, sind wir heute Abend wieder mal ungenießbar«, sagte Gia und musterte ihn ungehalten.
    Ungenießbar traf es kaum. Bei ihm wechselten sich schon seit Monaten gelegentliche kaum zu bändigende Wutanfälle mit Phasen tiefster Depression ab. Und zwar seit Kates Tod. Er schien nicht darüber hinwegzukommen. Er hatte große Schwierigkeiten, morgens aufzustehen, und sobald er sich hochgekämpft hatte, schien es nichts zu geben, das er hätte tun wollen. Daher schleppte er sich zu Abe oder zu Julio oder besuchte Gia und tat so, als ginge es ihm gut. Als wäre er der alte Jack, nur mit dem Unterschied, dass er im Augenblick mal nicht arbeitete.
    Die wütenden Botschaften seines Vaters in seiner Telefonmailbox, in denen er ihm die heftigsten Vorwürfe machte, dass er nicht zu Kates Totenwache oder Beerdigung erschienen war, waren auch keine Hilfe gewesen. »Sag mir bloß nicht, du hättest was Wichtiges zu erledigen gehabt. Sie war deine Schwester, verdammt noch mal!«
    Jack wusste das. Nach fünfzehn Jahren der Trennung war Kate für eine Woche wieder in sein Leben zurückgekehrt. Es war eine Woche gewesen, in der er sie neu kennen gelernt und neu lieben gelernt hatte, und jetzt war sie fortgegangen.
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