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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Sehnsucht zu allem Überfluss noch ihren Sinn, der teleologisch geprägt ist: Ihre Ausrichtung auf ein Ziel ( telos im Griechischen), das Erfüllung verspricht, vermittelt einen starken Sinnzusammenhang, und je intensiver der Sehnende das Ziel verfolgt, desto schmerzlicher entbehrt er den Sinn, wenn es erreicht ist: Plötzlich erscheint das Ersehnte leblos und leer. Solange es ersehnt wurde, war es groß, mit dem Erreichen aber fällt es der Verachtung anheim: Da es erreicht wurde, kann es nicht wirklich groß gewesen sein. Die größte Gefahr, die der romantischen Sehnsucht droht, ist aus diesem Grund die Erfüllung, denn sie stellt ihre Existenz in Frage. Mit Erfüllung rechnen Romantiker daher lieber nicht, auf sie stellen sie sich nicht ein. Erfüllung kann es für Momente geben, nicht jedoch auf Dauer. Das ist der eigentliche Grund für die Unstillbarkeit der romantischen Sehnsucht, darauf antwortet die Erfindung der ziellosen Sehnsucht, saudade im Portugiesischen, die im Fado hörbar wird und derErfüllung gar nicht bedarf, vielmehr den Weltschmerz der Unerfüllbarkeit nährt und aus tiefstem Herzen »das ablehnt, was man die Wirklichkeit nennt« (Eduardo Lourenço, Mythologie der Saudade , 2001, 23). Immer von Neuem soll die Sehnsucht aufbrechen und das Selbst sich nach Anderen und Anderem sehnen; dafür steht in der deutschen Romantik das Symbol der »blauen Blume«. Aus der Haltung zur Unerfüllbarkeit ergeben sich fortan Glück und Verzweiflung der Sehnsucht: Glück ist möglich, wenn das Sehnen selbst, erst recht das Erreichen des Ersehnten trotz aller Einbußen als erfüllend empfunden werden kann. Verzweiflung überkommt das Selbst, wenn das Nichterreichen des Ersehnten und sein Erreichen als existenzieller Mangel erscheinen.
    Bei all dem ziehenden Schmerz des Sehnens kann der, der sich sehnt, dennoch in der verführerischen Lust schwelgen, sich Möglichkeiten auszumalen, die jede Wirklichkeit verblassen lassen. Mit ausgreifender innerer Bewegung kann er die Sehnsucht als großes Gefühl erfahren, das das alltägliche Maß an Gefühlen hinter sich lässt, ganz so wie die euphorische Freude, die kalte Wut, das basse Erstaunen, die feierliche Erhabenheit, die bittere Enttäuschung, die abgrundtiefe Traurigkeit. Was im engen Alltag fehlt, kann in den weiten Raum der Möglichkeiten projiziert werden, und bedingungslos kann das Selbst sein Leben darauf ausrichten, das Entbehrte zu erlangen. Ohne Sehnsucht droht ein gleichförmiges, spannungsloses Leben, mit wachsender Sehnsucht aber wird die Form des Selbst rasch zu klein für die große Bewegung, die es in sich fühlt, im Innersten bis zum Zerreißen gespannt. Menschen, die sich sehnen, beginnen an ihrer Sehnsucht zu leiden, die jedes Maß sprengt; nicht von ungefähr wurden Goethes Verse ( Wilhelm Meister , Lied der Mignon) zum geflügeltenromantischen Wort, von Franz Schubert vertont: »Nur wer die Sehnsucht kennt, / Weiß, was ich leide!« Umgekehrt beginnen Menschen, die zu wenig Sehnsucht fühlen, an diesem Mangel zu leiden. Und ganz so, wie jede Nichterfüllung der Sehnsucht leidvoll ist, zieht auch jede Erfüllung ein Leiden nach sich, nämlich am Verlust des Horizonts, der ins Unbegrenzte und Unendliche geht, sodass nur noch der Überdruss am Begrenzten und Endlichen übrig bleibt. Ein geschlossener Kreis des Leidens steht somit zur Verfügung: Leiden am Übermaß der Sehnsucht, Leiden an ihrem Mangel, Leiden an ihrer Nichterfüllung, Leiden auch an ihrer Erfüllung. Mochte die Moderne die Zeit sein, die allem Leiden zu entkommen hoffte, um sich der Lust allein widmen zu können – die romantische Sehnsucht trägt Sorge dafür, dass es kein Entrinnen gibt.
    Wenn aber die Melancholie der Erfüllung wie der Nichterfüllung nicht endet und auch nicht enden soll, kann aus Sehnsucht Sucht werden, der Übergang ist fließend. Vor lauter Sehnen wird das Selbst krank, siech , zu heilen nur durch die Erfüllung, mit der das Sehnen jedoch von Neuem beginnt. Die Spannweite zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, die eine Quelle schöpferischer Kraft ist, wird überspannt und kippt ins Zerstörerische. Dazu trägt ein ontologisches Missverständnis bei, nämlich der Glaube, der Unterschied von Wirklichkeit und Möglichkeit sei aufhebbar, die Begrenztheit des Daseins könne durch »Entgrenzung«, durch ein Leben in der unbegrenzten Weite des Seins überwunden werden. Eine Sucht kann viele Gründe haben: Genetische Ausstattung, Prägung der Kindheit, individuelle
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