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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen
Autoren: Wilhelm Schmid
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göttliche Vollkommenheit der Kugelwesen schlug jedoch in Übermut um, und so versuchten sie, den Himmel zu stürmen, um endlich den Göttern ebenbürtig zu sein. Zeus aber, der oberste Gott, bestrafte sie für die Anmaßung, indem er sie in der Mitte zerspaltete, um sie »kraftloser« zu machen. Fortan war jede Hälfte damitbeschäftigt, nach ihrem Gegenstück zu suchen, um mit ihm wieder zur Einheit zu verschmelzen. Die Hälften aber, die sich fanden, glitten aneinander ab, das Wehklagen war groß. Aus Mitleid ordnete Zeus daraufhin ihre Geschlechtswerkzeuge so an, dass sie sich wenigstens zeitweilig wieder verkoppeln und die ursprüngliche Einheit erleben konnten; »zwischendurch« sollten sie ihrer Arbeit nachgehen. So nahm die Geschichte der Separierung der Menschen ihren Lauf, seither ist jeder auf der Suche nach seiner anderen Hälfte, mit der er die Feste der Einheit feiern kann: »Das Verlangen und Streben nach dem Einssein freilich nennt man Liebe.«
    Auch andere Kulturen kennen Geschichten von einer ursprünglichen Einheit, nach der die Menschen sich zurücksehnen, meist verbunden mit der Vorstellung einer Einheit auch der verschiedenen Ebenen von Liebe , sodass die Begegnung zwischen zweien die sinnliche Vereinigung der Körper ebenso wie das gefühlte Einssein der Seelen , die geistige Übereinstimmung in Gedanken und die transzendente Erfahrung des Unendlichen umfassen kann. Alle Ebenen spricht die Bildersprache im »Lied der Lieder Salomos«, dem hebräischen Hohelied an, dieser erstaunlichen Sammlung von Versen im Alten Testament (herrlich illustriert 1911 von Lovis Corinth), die aus wechselnder Perspektive die Liebe besingen, mit starkem Hang zur Sinnlichkeit: »Ein Myrrhenbündel ist mein Liebster mir, das zwischen meinen Brüsten ruht.« »In seinem Schatten verlangt’s mich zu sitzen, seine Frucht ist süß meinem Gaumen.« Aber die Sehnsucht nach der erfüllten Liebe , nach dem Genuss ihrer Früchte auf allen Ebenen, kommt auch in anderen Überlieferungen zum Ausdruck, in der griechischen Dichtung etwa bei Sappho: Körperlich, seelisch, geistig, göttlich soll die Liebe sein, die Eros und Aphrodite den Menschenschenken. Auf allen Ebenen spielt auch die Geschichte von Krishna und Radha in der Sanskrit-Dichtung Gitagovinda des bengalischen Hofdichters Jayadeva, der damit alte erotische und mythologische Motive wieder aufnimmt. Die abendländische Geschichte aber entfaltet sich als eine Geschichte der Fragmentierung der Liebe , bei der jeweils eine oder zwei Ebenen das Ganze vertreten sollen und es doch nicht können. Einige Phasen dieser Geschichte lassen sich anhand markanter Neuerungen skizzieren, die sich, einmal eingeführt, nicht mehr verlieren, sondern zu Facetten im Mosaik werden, aus dem das Bild der Liebe zu jeder Zeit besteht.
    1. In der Antike hebt Platon die Liebe auf eine geistige Ebene , um den Enttäuschungen zu entgehen, die von vergänglichen äußeren Reizen und wankelmütigen Gefühlen verursacht werden können. Die Rede der Diotima, die Sokrates im Symposion vorträgt, präsentiert den Entwurf dessen, was als »platonische Liebe« Eingang in die Geschichte finden sollte: In Gedanken soll der Liebende sich seiner Liebe bemächtigen, um sie von ihrem Verlangen nach körperlicher Schönheit und seelischer Attraktivität abzubringen; allein die Schönheit des Geistigen soll sie motivieren, um schließlich in Gedanken die unbewegte, unvergängliche, »überhimmlische« Idee des Schönen anzuschauen. Der Aufstieg zur Anschauung der Idee ist mit einer nachdrücklichen Abwertung der körperlichen und seelischen Ebene verbunden, auch die ursprüngliche Besetzung der transzendenten Ebene wird geleugnet: »Eros ist kein Gott.« An die Stelle des Gottes tritt nun die Idee des Schönen und animiert den Menschen, der es erblickt, zur »Niederkunft im Schönen« ( tokos en kalo ), zum Hervorbringen von Schönem, zur geistigen Kreativität. Mit dieser Orientierung sind zwei in der Lage, gleich welchen Geschlechts, eine Beziehungauf gleicher Ebene zueinander zu unterhalten, bei der beide sich durch Besonnenheit auszeichnen, und vielleicht ist ein ungewöhnliches Paar diesem Ideal wirklich nahe gekommen: Perikles, der athenische Politiker, und die schöne und gebildete Aspasia, der die dichterische Gestalt der Diotima nachempfunden sein könnte. Auf jeden Fall vollzieht sich mit Platon eine signifikante Veränderung in der Bedeutung von »Liebe«, wenngleich die gewöhnlichen ehelichen und
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