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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Anfälligkeit, soziales Umfeld, Verfügbarkeit von Suchtmitteln, deren gesellschaftliche Akzeptanz oder Ablehnung, die Gewöhnung und die darauf folgenden neuronalen Veränderungen, die vor allem beistoffgebundenen Formen der Sucht kaum je rückgängig zu machen sind. Aber ontologische Gründe kommen hinzu, die in Begriffen festgehalten werden und entsprechende Gefühle wachrufen: Das Selbst will sich auflösen im »ganz Anderen«, in dem das »wahre Leben« vermutet wird, das nur als dauerhaftes Angeregtsein, Erregtsein, ekstatisches Außer-sich-Sein vorstellbar ist. Dieses Leben, das lange Zeit kulturell einem Jenseits zugeschrieben wurde, wird in moderner Zeit individuell ins Diesseits zurückverlegt. Hier aber ist es definitiv unerfüllbar, und das wird der Wirklichkeit zum Vorwurf gemacht, die im Lichte der »anderen Bewusstseinsebene« von Grund auf fragwürdig erscheint, denn nie entspricht sie dem ersehnten möglichen Leben. Statt sich von der Sehnsucht zu Möglichkeiten inspirieren zu lassen, auf veränderte Weise in der Wirklichkeit zu leben, wird das wirkliche Leben für das betroffene Selbst ebenso unmöglich wie ein Leben nur in Möglichkeiten.
    Vielleicht geht alle Sucht aus einer Sehnsucht hervor (Werner Gross , Hinter jeder Sucht ist eine Sehnsucht , 2002). Die Sucht ist jedenfalls die andere Seite des Sehnens und gehört der »schwarzen Seite« der Romantik zu. Problematisch können sämtliche Komponenten der Sehnsucht werden: Motiv, Ziel und Mittel zur Erlangung des Ziels. Zum Motiv wird es, die störende Präsenz des Wirklichen hinter sich zu lassen, auch wenn das unmöglich ist. Zum Ziel avanciert das Glück des ewig lustvollen Wohlgefühls, ohne Beimischung von Unlust und Unwohlsein, auch wenn das kein sinnvolles Verständnis von Glück sein kann. Und was die Mittel zur Erfüllung angeht, so kommen, je geheiligter das Ziel, desto bedenkenloser alle Mittel in Betracht, auch deren gewaltsame Beschaffung; selbst Menschen werden zu bloßen Mitteln, etwa um die ersehnte Liebe zu erlangen. Der gewöhnlichen Sehnsucht nach Liebefolgt immer mal wieder ein Moment der Erfüllung, der Sucht aber rasch die anhaltende Lieblosigkeit. Der herkömmlichen Sehnsucht erscheinen alle Hürden auf dem Weg zur Erfüllung überwindbar, die Sucht aber gräbt den Eindruck gänzlicher Aussichtslosigkeit in einen Menschen ein. Eine Gnadenlosigkeit der Existenz wird erfahrbar, auf die ein romantisches Selbst am allerwenigsten vorbereitet ist. Zum letzten Ziel wird der erlösende Tod, um der ewigen Unerfülltheit ein Ende zu setzen und ohne Umwege direkt in die Unendlichkeit zu gelangen, die als wahres Leben erscheint.
    Dennoch, trotz aller Gefahr der Sucht, ist die Sehnsucht unverzichtbar: Das Menschsein braucht die Energie, die sie freisetzt, und die Möglichkeiten, die sie erschließt. Um der Sucht zu entgehen, bedarf es einer Anstrengung der bewussten Lebensführung, die zuallererst darin besteht, sich die unaufhebbare Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit vor Augen zu führen. Die Akzeptanz der Differenz ermöglicht die Mäßigung der Sehnsucht , ihre Entlastung von maßlosen Erwartungen, die nicht nur im besonderen Fall, sondern von Grund auf, ontologisch , unerfüllbar sind. Die begrenzte Erwartung ermöglicht, mit der Begrenztheit der Erfüllung besser leben zu können. Es liegt am Selbst, sich bei jeder Idealisierung des Ersehnten darüber im Klaren zu sein, dass jede Realisierung auch weniger ideale Seiten zum Vorschein bringt. Der Einzelne kann damit einverstanden sein, dass keine einzige Möglichkeit ohne Einbußen zu verwirklichen ist, dass zudem jede Verwirklichung den Bedingungen des Lebens in der Zeit unterworfen ist und dass schon aus diesem Grund nicht alle Möglichkeiten verwirklicht werden können. Alles Leben ist ein Abschiednehmen von Möglichkeiten, auch in Gestalt verpasster Gelegenheiten, und ein Neuanfang im Sehnen.
    Das Sehnen selbst ist unverfügbar, verfügbar ist nur die Haltung dazu: Etwa dem spontan entstehenden Sehnen zu folgen – oder es ins Leere gehen zu lassen. Situationen können geschaffen werden, die seiner Entstehung förderlich sind, etwa Ziele ins Auge zu fassen, auf die es sich richten kann – oder eben darauf zu verzichten. Liebende können ihre Sehnsucht nach dem Anderen anstacheln, etwa durch die zeitweilige Trennung voneinander, und können sie kulminieren lassen, um sie durch ausgiebige Erfüllung zu befriedigen, und dann wieder von vorne. So kann es gelingen, die
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