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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Sehnsucht geben.
    Dass sie über das hier und jetzt Bestehende, letztlich über alles Wirkliche und Endliche hinaus zielt, macht die Sehnsucht zu einem transzendenten Vermögen im Wortsinne des lateinischen transcendere , mit dem das Überschreiten einer Schwelle bezeichnet wird. Die Schwelle, die die Sehnsucht überschreitet, ist die vom Wirklichen zum Möglichen , sei es, um eine bedrückende Wirklichkeit, eine Unmöglichkeit von Andersheit hinter sich zu lassen, oder um einfach der Leidenschaft für all das Mögliche, das nicht schon wirklich ist, zu frönen. Worauf auch immer sie sich richtet: Immer ist die Sehnsucht ein ontologisches Streben von einer Ebene des Seins ( on im Griechischen) zur anderen, von der Ebene der Wirklichkeit, die faktisch endlich ist, zur Ebene der Möglichkeit, die potenziell unendlich ist. Dieses Streben teilt die Sehnsucht mit der Melancholie und der Liebe, die ebenfalls danach suchen, über die Enge der Wirklichkeit und Endlichkeit hinaus zu gelangen. Sehnsucht, Melancholie und Liebe: Das ist immer nur ein anderes Wort für das Verlangen nach – Gott , diesem traditionellen Inbegriff der Dimension des Möglichen und Unendlichen. Augustinus bemerkte im 4./5. Jahrhundert n. Chr. gegen Ende des 10. Buchs seiner Bekenntnisse , wie das Sehnen Besitz von ihm ergreift und ihn von der gegebenen Wirklichkeit zur möglichen Unendlichkeit hin zieht, aber auch, wie elend er sich fühlt, da er immer wieder ins Gegebene zurückstürzt: »Hier, wo ich sein kann, will ich nicht sein; dort, wo ich sein will, kann ich nicht sein.« In der Sehnsucht kommt das Leben nicht zur Ruhe, die christliche Theologie hat daher nicht sie, sondern die ruhigere Hoffnung , die sich mit dem bloßen Blick auf das Mögliche begnügt, den wichtigsten transzendenten Vermögen (»Kardinaltugenden«) namens Glaube und Liebe beigesellt.
    Willkommener erschien die Sehnsucht einer anderen Zeit, in der sie in einem Maße an Bedeutung gewann wie nie zuvor; die Bewegung der Romantik sorgte dafür: Sehnsucht ist das romantische Gefühl par excellence , eine Romantik ohne sie gibt es nicht. Mit den Anfängen der westlichen Moderne im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert haben die Romantiker vieler Länder die Sehnsucht zu ihrem Programm gemacht, sie vorsätzlich gepflegt und gestärkt, überzeugt davon, dass der Geist »nichts Höheres finden kann« (Friedrich Schlegel, Lucinde , 1799, »Sehnsucht und Ruhe«). Die unbändige Sehnsucht der Bettine von Arnim, geborene Brentano, beinahe egal wonach, steht dafür: »Die Sehnsucht hat allemal Recht« (Auswahlband, 2007, 98). Jedem Versuch zumRückzug aufs Weltliche und Endliche setzt die Romantik eine Potenzierung ins Unendliche entgegen, von der vor allem Novalis träumte. Just am Beginn der Epoche, die eigentlich auf den transzendenten Horizont eines Jenseits verzichten wollte, zünden die Romantiker im Diesseits den Sprengsatz, der den Zugang zur Transzendenz erneut aufreißt. Auf weltliche Weise wird ein Darüberhinaus wieder gewonnen, das sowohl im Traum des Individuums wie auch in der Vision der Gesellschaft von einem anderen Leben weit über den gegenwärtigen Moment, den momentanen Ort und die gegebenen Verhältnisse hinausgeht. Die Sehnsucht ist das romantische Medium zur »Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln« (Rüdiger Safranski, Romantik , 2007, 393), und diese säkulare Religiosität sprengt das etablierte Triumvirat der Transzendenz: Neben Glaube, Liebe, Hoffnung vertrauen fortan viele auf die Sehnsucht, wenn es zu eng wird in der Endlichkeit, sowohl im Leben des Einzelnen wie auch in der Geschichte der Gesellschaft; und neben Melancholie, Traum und Vision bleibt ein transzendentes Urvermögen weiterhin der Rausch, vermutlich die Urform aller Religiosität.
    Ihre Intensivierung der Sehnsucht verstanden die Romantiker als eine Kritik an der Moderne, aber sie trugen damit selbst wesentlich zum Prozess der Modernisierung bei. Die Romantik geht folglich nicht darin auf, nur »antimodern« zu sein, vielmehr motiviert sie Individuen und ganze Gesellschaften auf der Suche nach dem Neuen und befördert damit die moderne Bewegung der Befreiung von Bindungen der Religion, Tradition, Konvention und Natur. Die Sehnsucht wird zum Inbegriff der Freiheit des Menschen, nichts mehr so belassen zu müssen, wie es ist, vielmehr alles in Bewegung setzen zu können, und das treibt die moderne Wissenschaft, Technik, Politik undWirtschaft an: Die Wissenschaft wird
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