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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen
Autoren: Wilhelm Schmid
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individuelle Erneuerung erstrebenswert erscheinen, wird die Liebe als Quelle von Sinn dafür gebraucht, und so kommt es darauf an, sie wieder zu finden und auch neu zu erfinden: Die Neuerfindung der Liebe in Zeiten der Verzweiflung an ihr . Gerade das Scheitern einer überkommenen Idee kann zum Anfang einer neuen werden, ganz so, wie der Maler Malewitsch zu dem Zeitpunkt, als er mit der alten Kunst am Ende war, mit dem Schwarzen Quadrat eine neue zu begründen vermochte. Auch in der Liebe sollte man zur Idee zurückgehen, um sich an ihrer Veränderung zu versuchen. Überall dort, wo eine Wirklichkeit zum Problem wird, kann ein Grund dafür die Idee sein, die an der Wirklichkeit mitgestrickt hat. Und wenn die Liebe von Grund auf eine unmögliche Idee ist? Dann ist das wohl erst recht kein Grund, von ihr zu lassen: Der Weg der Menschheit ist gepflastert mit Unmöglichkeiten, die dennoch wirklich werden. Ein Problem besteht lediglich darin, dass aus jeder Idee, die mit gnadenloser Logik verfolgt wird, eine Ideologie werden kann: Das scheintmit der Idee der romantischen Liebe geschehen zu sein, der Idee eines Glücks, das den Liebenden gute Gefühle bis in alle Ewigkeit verspricht, während sich im Alltag die Ichs mit weniger guten Launen wechselseitig im Weg stehen.
    Die Liebe erstickt, wenn sie immer nur Liebe sein muss. Eine andere Idee , die die Liebe lebbarer machen könnte, ist die einer atmenden Liebe – vorausgesetzt, eine lebbare Liebe erscheint noch wünschenswert. Die Liebe neu zu erfinden, ist gleichbedeutend damit, sie atmen zu lassen. Atmen kann sie, wenn die Liebenden sich nicht nur miteinander, sondern auch mit ihrem je eigenen Selbst befassen, * und wenn sie zwischen mehreren Ebenen der Liebe hin- und hergehen können, um sich auf immer andere Weise einander zuzuwenden. Atmen können muss die Liebe zwischen Gegensätzen, die den romantisch Liebenden so große Probleme bereiten: Zwischen Nähe und Distanz, Freude und Ärger, Lust und Schmerz, Ekstase und Alltag, Ungewöhnlichem und Gewöhnlichem, Gefühl und Gewohnheit, Möglichkeit und Wirklichkeit, Sehnsucht nach einer Welt, die erträumt wird, und Anpassung an die missliche Welt, die vorgefunden wird, in der jedoch die Arbeit an einer anderen Welt im Kleinsten und Alltäglichsten möglich ist. Atmen kann die Liebe, die einerseits der nüchternen Pragmatik Raum gibt, andererseits aber die gefühlvolle Romantik nicht preisgibt, denn die bloße Nüchternheit wird niemanden wärmen: Die Liebe erstickt auch, wenn sie nie Liebe sein darf. Eine pragmatisch-romantische Liebe antwortet auf den neuerlichen Ansturm der Pragmatik in fortgeschrittener moderner Zeit und versucht sich an einer Rettung der Romantik, nicht jedoch durch die Abwehr , sondern durchdie Aufnahme pragmatischer Elemente, um mit Ärger, Alltag, Verrat, Streit, Liebesentzug und anderen Herausforderungen besser zurechtzukommen.
    Die andere, atmende Liebe wird das Signum einer anderen Moderne sein, und unter veränderten Vorzeichen kann eine erneuerte Kunst des Liebens zum Element der Lebenskunst vieler werden. Sie sollte alle Spielarten von Liebe und alle Arten von Beziehungen umfassen, beginnend, nicht endend, mit der Liebe zwischen zweien. Die Bindung zwischen ihnen, die einst von scheinbar objektiven Kräften der Religion, Tradition, Konvention und Natur gewährleistet wurde, ist nun auf die subjektiven Kräfte eines großen Wohlwollens füreinander angewiesen; anders wird jedenfalls unter Bedingungen der Freiheit eine länger währende Liebe kaum noch möglich sein. Erst wenn die Herausforderungen der Moderne durchgestanden sind, wird sich eine neue Leichtigkeit des Liebens einstellen, die der anstrengenden Bewusstheit nicht mehr bedarf. Die Neuerfindung der Liebe und die Neubegründung einer Kunst des Liebens ist letztlich jedoch eine Sache der Liebenden selbst, die von ihren je eigenen Bedingungen ausgehen, um die Möglichkeiten dieser sonderbaren Existenzweise neu zu erkunden, zu erproben und auszuschöpfen. Für die Versuche, die sie wagen, müssen sie keine allgemeine Verbindlichkeit im Blick haben. Eine Philosophie der Liebe und der Lebenskunst kann ihnen theoretische Impulse vermitteln, entscheidend aber ist ihre eigene praktische Kreativität, um der Liebe stets von Neuem ein Gesicht zu geben. Und ihre Geschichte ad infinitum fortzuschreiben.
    * Wilhelm Schmid, Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst , Frankfurt am Main 2004, Taschenbuch
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