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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen
Autoren: Wilhelm Schmid
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2007.

Von der Liebe und anderen Beziehungen
Nur wer die Sehnsucht kennt: Vom Sinn des Sehnens
    Am Anfang der Liebe ist die Sehnsucht nach ihr, von Sehnsucht wird sie begleitet, und von ihrem Ende kündet erneut eine Sehnsucht, nach einer anderen Liebe, einem anderen Leben. Liebe wird oft nicht als das, was ist, erfahren, sondern als das, was fehlt; Menschen sind enttäuscht von ihr, entbehren sie und sehnen sich nach ihr. Der Mangel macht Hunger, die Sehnsucht nach Sättigung setzt Menschen in Bewegung ( motus im Lateinischen), motiviert sie also, zueinander hin, voneinander weg, bewegt von einer Energie, die ihre Intensität aus der Spannung und Spannweite zwischen dem Sehnenden und dem Ersehnten bezieht. Und nicht nur auf andere Menschen hin und von ihnen weg richtet sich Sehnsucht, sondern auch auf andere Wesen, auf Natur, auf Orte etwa in Gestalt von Fernweh , von dort wieder zurück in Form von Heimweh . Sie gilt künftigen Zeiten in Form von Utopie , dann wieder vergangenen Zeiten in Gestalt von Nostalgie , und nicht etwa nur Liebe, sondern zahllose materielle und immaterielle, bestimmte und unbestimmte Dinge können die Sehnsucht beflügeln: Ein Kleidungsstück, Schönheit, ein gesichertes Einkommen, Freiheit, eine Wohnung, Frieden, ein Auto, Sicherheit, ein Haus, Geborgenheit. Menschen sehnen viele Möglichkeiten herbei, dann wieder eine überschaubare Wirklichkeit. Sie sehnen sich nach Leben, nach Welt überhaupt, nach Gott – und wieder davon weg.
    Sehnen ist die innere Bewegung, die sich in der Sehnsucht zurHaltung verfestigt, ohne dass dies im Sprachgebrauch voneinander unterschieden würde. Dem konkreten Wünschen, Begehren, Wollen geht meist das vage Sehnen voraus; es leitet die Suche an, die in der Sehnsucht mitschwingt. Ganz von selbst entsteht ein Ziehen , das im Inneren spürbar wird, unwillkürlich und unreflektiert, dem bewussten Zugriff entzogen. Es treibt das Selbst aus sich heraus und über sich hinaus, sucht nach der Begegnung mit dem Anderen in jeder Hinsicht und hält Anderes als das Bestehende für möglich; den Sinn dafür hält es wach. Im begrenzten Raum der Gegenwart können Enge und Mangel empfunden werden, das Sehnen aber spürt zielsicher den freien Raum des Künftigen auf, in dem ein anderes und besseres Leben möglich erscheint, mit mehr Glück, größerer Fülle, tieferem Sinn, vollkommener Schönheit. Mit Blick darauf gelingt es, die körperliche Gebundenheit an die gegebene Wirklichkeit zu lockern, die Gefühle schon mal vorauszuschicken und die Gedanken dorthin zu bewegen und beispielsweise die schönere Wohnung zu suchen, die das bessere Leben ermöglicht, das möglichst nie enden soll. Das gefühlte und gedachte Sehnen richtet sich, auch wenn es um bestimmte Dinge geht, immer von Neuem auf etwas Unbestimmtes, Ungegenwärtiges, Unbegrenztes, vielleicht, weil Menschen sich dort beheimatet wissen, auf jeden Fall aber, weil sie es im Bestimmten, Bestehenden, Begrenzten nicht aushalten können.
    Was wäre, wenn es keine Sehnsucht gäbe? Menschen würden sich mit dem gegebenen Stand der Dinge bescheiden, ihrem Leben würden entscheidende Impulse fehlen, die gesamte menschliche Geschichte wäre anders verlaufen. Eine Geschichte der Sehnsucht könnte vor Augen führen, wie schon das Entstehen der Menschheit an das Aufkommen dieses Gefühls gebunden war: Mit dem ersten Bewusstwerden und demfolgenden Erschrecken über die Endlichkeit brach wohl schon die Sehnsucht auf, die über jede Endlichkeit hinaus will, denn Endlichkeit ist Enge, und Enge, die nicht gewollt ist, macht Angst. Ursprünglich vielleicht nur durch eine zufällige Mutation entstanden, wurde die Sehnsucht im Laufe der Zeit zum Erfolgsmodell des Tieres Mensch, das ohne sie nicht geworden wäre, was es ist: Ein »Erfahrungstier« (Michel Foucault, Gespräch, 1978), immer bereit zum Aufbruch in andere Räume, zur Erkundung neuer Möglichkeiten. Auch wenn Menschen nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen in gleichem Maße davon erfasst sind, ist die Sehnsucht das immer wieder aufbrechende Bedürfnis, im Fühlen und Denken und gelegentlich im Handeln zu einem Anderssein zu gelangen, mit Blick auf ein fernes Schönes , das wie ein Leitstern über dem Leben steht. Worauf das sehnsüchtige Verlangen, Eros im Griechischen, sich richte, das sei das Schönste, sang im 6. Jahrhundert v. Chr. schon die Dichterin Sappho. Durch die gesamte Geschichte der Menschheit irrlichtert die Sehnsucht, und solange es Menschheit gibt, wird es
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