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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle
Autoren: John le Carré
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Verwundeten auf vier und zwölf andere, die aus diesem oder jedem Grund ms Krankenhaus eingeliefert worden waren; jetzt war von den italienischen Roten Brigaden die Rede, wofür es jedoch nicht den geringsten Anhaltspunkt gab. Am nächsten Tag vollzogen die Zeitungen nochmals eine Kehrtwendung und schoben den Anschlag dem Schwarzen September in die Schuhe. Noch einen Tag später bekannte sich eine Gruppe, die sich Palästinensische Agonie nannte, zu der Gewalttat - eine Organisation, die sich überzeugend auch zur Urheberschaft der vorangegangenen Bombenanschläge bekannt hatte. Der Name Palästinensische Agonie blieb haften, selbst wenn es sich dabei weniger um einen Namen für die Attentäter handelte als um eine Erklärung für ihr Handeln. Und da erfüllte er auch seinen Zweck, wurde er doch, wie nicht anders zu erwarten war, für die Überschrift so manch eines gedankenschweren Leitartikels aufgegriffen.
    Unter den Nicht-Juden, die den Tod fanden, war eine sizilianische Köchin der Italiener, der andere der philippinische Chauffeur. Zu den vier Verwundeten gehörte die Frau des israelischen Arbeits-Attaches, in dessen Haus die Bombe explodiert war. Sie verlor ein Bein. Bei dem getöteten Israeli handelte es sich um ihren kleinen Sohn Gabriel. Doch das Opfer, auf das man es abgesehen hatte, war nicht darunter. Das war vielmehr ein Onkel der verwundeten Frau des Arbeits-Attaches, der zu Besuch aus Tel Aviv in Godesberg war: ein Talmud-Gelehrter, der wegen seiner falkenhaften Ansichten hinsichtlich der Rechte der Palästinenser auf der West-Bank mäßig gefeiert wurde. Er glaubte mit einem Wort, sie hätten überhaupt keine Rechte, und verkündete das laut und häufig ohne jede Rücksicht auf die Ansichten seiner Nichte, der Frau des Arbeits-Attaches, die zur ungebundenen, freien israelischen Linken gehörte und deren Kibbuz-Erziehung sie nicht auf den hemmungslosen Luxus des Diplomatendaseins vorbereitet hatte. Hätte Gabriel im Schulbus gesessen, wäre er gerettet worden, doch Gabriel hatte sich an diesem wie an so vielen anderen Tagen nicht wohl gefühlt. Er war ein wirres, überaktives Kind, das bis zu diesem Tag als Störenfried in der Straße gegolten hatte, besonders während der Zeit der Mittagsruhe. Allerdings war er, wie seine Mutter, musikalisch begabt gewesen, und jetzt war es das Natürlichste von der Welt, dass kein Mensch in der Straße sich an ein Kind erinnern konnte, das man inniger geliebt hätte. Ein rechts stehendes deutsches Boulevardblatt, das vor pro-jüdischer Einstellung nur so troff, nannte ihn den ›Engel Gabriel‹ ein Titel, der - was die Redakteure freilich nicht wussten - beiden Religionen bekannt ist, und brachte eine ganze Woche lang völlig aus der Luft gegriffene Geschichten über Gabriels heiligmäßiges Leben. Die seriösen Zeitungen waren nicht frei von Anklängen an diese Einstellung. Das Christentum, so erklärte ein Star-Kolumnist -und zitierte damit Disraeli, ohne seine Quelle preiszugeben -, sei die Vollendung des Judentums, oder es sei gar nichts. So war Gabriel ebensosehr ein christlicher wie ein jüdischer Märtyrer; und besorgten Deutschen war dank dieser Erkenntnis viel wohler in ihrer Haut. Ohne, dass dazu aufgerufen worden wäre, wurden von den Lesern Tausende von Mark gespendet, die irgendwie ausgegeben werden mussten. Es war die Rede davon, ein Gabriel-Denkmal zu errichten; von den anderen Toten wurde kaum gesprochen. Der jüdischen Tradition gemäß wurde der beklagenswert kleine Sarg Gabriels sofort nach Israel geflogen, um dort beigesetzt zu werden; seine Mutter, die noch nicht reisefähig war, blieb in Bonn, bis ihr Mann sie begleiten und sie gemeinsam in Jerusalem Schiwah sitzen konnten. Am frühen Nachmittag des Tages, an dem die Explosion sich ereignet hatte, traf ein Sechs-Mann-Team israelischer Experten aus Tel Aviv ein. Auf deutscher Seite war der umstrittene Dr. Alexis aus dem Innenministerium im weitesten Sinne mit der Untersuchung beauftragt und fuhr pflichtgemäß zum Flugplatz, um die Israelis abzuholen. Alexis war ein kluger, gerissener Bursche, der sein Leben lang darunter gelitten hatte, zehn Zentimeter kleiner zu sein als die meisten seiner Mitmenschen. Aber vielleicht zum Ausgleich für diesen Nachteil war er - sowohl im Privatleben als auch im Beruf - von einer gewissen Unbesonnenheit, und es wurden ihm leicht strittige Dinge angehängt. Er war sowohl Jurist als auch Sicherheitsbeamter und dazu jemand, der um die Macht spielte, ein Typ, wie
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