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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle
Autoren: John le Carré
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während Hilda am Schreibtisch ihres Mannes sitzt und einen Brief an ihren Geliebten verfasst: an Michel, an Joseph. Eine Kerze brannte daneben, und gleich würde sie bei der Suche nach einem weiteren Blatt Papier die Schreibtischschublade aufreißen und - »Oh, nein!« - den nicht abgeschickten Brief ihres Mannes an seine Geliebte finden. Sie fing an zu schreiben, und sie war in dem Motel in Nottingham; sie starrte in die Kerzenflamme und sah Josephs Gesicht, wie es sie über den Tisch in der Taverne bei Delphi anblinzelte. Sie sah noch einmal hin, und da war es Khalil, der mit ihr in dem Haus im Schwarzwald an dem rustikalen Tisch aß. Sie sprach ihren Text, und wunderbarerweise war es nicht der von Joseph oder von Tayeh oder von Khalil, sondern der von Hilda. Sie zog die Schreibtischschublade auf, steckte eine Hand hinein, verpasste einen Takt und zog völlig verwirrt ein mit der Hand beschriebenes Blatt hervor, hob es in die Höhe und drehte sich um, um dem Publikum zu zeigen, wie es aussah. Sie stand auf und trat mit dem Ausdruck wachsenden Unglaubens bis vorn an den Bühnenrand und fing an, laut vorzulesen - so ein geistreicher Brief, so voll reizender Anspielungen. Gleich würde John, ihr Mann, im Morgenrock von links auftreten, auf den Schreibtisch zugehen und ihren eigenen unvollendeten Brief an ihren Liebhaber vorlesen. In einer Minute würde es einen noch witzigeren Querschnitt aus ihren beiden Briefen geben, die Zuschauer würden sich ausschütten vor Lachen, bis sie nicht mehr konnten und geradezu in Ekstase gerieten, wenn die beiden verratenen Liebhaber, einer von der Untreue des anderen angeregt, einander wollüstig in die Arme fielen. Sie hörte ihren Mann eintreten, was für sie das Zeichen war, die Stimme zu erheben: Empörung tritt an die Stelle der Neugier, als Hilda weiterliest. Sie packte den Brief mit beiden Händen, drehte sich um, machte zwei Schritte nach vorn links, um nicht John zu verdecken.
    Und da sah sie ihn - nicht John, sondern Joseph, ganz deutlich, er saß dort, wo Michel immer gesessen hatte: erste Reihe Mitte, und starrte mit dem gleichen schrecklich ernsten Interesse zu ihr hinauf.
    Im ersten Augenblick war sie wirklich überhaupt nicht überrascht; die Trennwand zwischen ihrer inneren und ihrer äußeren Welt war schon zu ihren besten Zeiten eine ziemlich klapprige Angelegenheit gewesen und hatte neuerdings praktisch aufgehört zu existieren. Er ist also gekommen, dachte sie. Wurde aber auch Zeit. Orchideen, Jose? Keine Orchideen? Und keinen roten Blazer? Goldmedaillon? Schuhe von Gucci? Vielleicht hätte ich doch in die Garderobe gehen sollen. Und dein Briefchen lesen. Dann hätt’ ich gewusst, dass du kommst, oder? Und hätt’ einen Kuchen gebacken. Sie hatte aufgehört, laut vorzulesen, denn es hatte ja wirklich keinen Sinn mehr, überhaupt noch zu spielen, auch wenn der Souffleur ihr ungeniert den Text zuzischelte und der Direktor hinter ihm stand und mit den Armen fuchtelte wie jemand, der einen Schwarm Bienen abwehrt; irgendwie konnte sie beide sehen, obwohl sie ausschließlich Joseph anstarrte. Vielleicht bildete sie sich die beiden auch nur ein, weil Joseph endlich so wirklich geworden war. Hinter ihr hatte Ehemann John ohne jede Überzeugung angefangen, irgendeinen Text zu erfinden, um ihr aus der Patsche zu helfen. Du brauchst einen Joseph, wollte sie ihm stolz sagen; unser Jose hier schreibt dir einen Text für jede Gelegenheit.
    Zwischen ihnen war eine Wand aus Licht - nicht so sehr eine Wand, eher eine optische Trennung. Da sie zu ihren Tränen noch hinzukam, wurde ihre Sicht von ihm immer mehr beeinträchtigt, so dass sie schon den Verdacht hatte, er sei doch nur eine Fata Morgana. Aus den Kulissen riefen sie ihr zu, sie solle abtreten; Ehemann John war bereits hinuntergestapft -klonk, klonk - und hatte sie als Vorspiel freundlich, aber fest beim Ellbogen gefasst, ehe er sie dem Souffleur-Kasten übergab. Sie nahm an, dass sie gleich den Vorhang für sie fallen ließen und dieser kleinen Nutte - wie hieß sie doch noch gleich, ihre Ersatzspielerin - die Chance ihres Lebens gäben.
    Ihr jedoch ging es darum, Joseph zu erreichen, ihn zu berühren und sich zu vergewissern. Der Vorhang fiel, doch sie stieg bereits die Stufen zu ihm hinunter. Die Lichter gingen an, und ja, es war Joseph, doch als sie ihn so deutlich sah, langweilte er sie; er war nur ein Zuschauer. Sie ging den Mittelgang hinauf, spürte, wie sich eine Hand auf ihren Arm legte, und dachte: Ach,
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