Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle
Autoren: John le Carré
Vom Netzwerk:
zunehmend widerwilligen deutschen Minister Entwicklungshilfe abzuluchsen. Als die Leitung plötzlich tot war, glaubten die Herren in Abidschan, er habe einfach aufgelegt, und schickten ihm ein ätzendes Telegramm, in dem sie nachfragten, ob er vorhabe, seinen Abschied einzureichen. Der israelische Arbeits-Attache war bereits seit einer Stunde fort. Er fühlte sich in Bonn nicht wohl, und soweit ihm möglich war, arbeitete er gern zu den Jerusalemer Bürozeiten. So nahm es seinen Lauf, und eine Menge ziemlich billiger Nationalitätenwitze fand eine Bestätigung in Wirklichkeit und Tod. Irgendwo steckt in jedem Bombenattentat auch ein Wunder; in diesem Fall sorgte der amerikanische Schulbus dafür, der gerade gekommen und mit den meisten schulpflichtigen Kindern des Diplomatenviertels wieder abgefahren war, die sich jeden Tag auf dem Wendekreis keine fünfzig Meter vom Epizentrum entfernt einfanden. Wie durch eine gnädige Fügung hatte an diesem Montagmorgen keines der Kinder seine Hausaufgaben vergessen, keines verschlafen oder eine unüberwindliche Abneigung gegen die Schule bekundet. Die Heckscheiben zersprangen, der Fahrer fuhr in Schlangenlinie über den Rinnstein, eine kleine Französin verlor ein Auge, doch im großen und ganzen kamen die Kinder mit heiler Haut davon, was hinterher als Erlösung empfunden wurde. Denn auch das gehört zu solchen Bombenanschlägen oder zumindest zu dem, was unmittelbar danach geschieht: ein allgemeines hemmungsloses Bedürfnis, die Lebenden zu feiern, statt Zeit damit zu vergeuden, die Toten zu betrauern. Der eigentliche Kummer in solchen Fällen kommt später, wenn der Schock sich gelegt hat, gewöhnlich nach ein paar Stunden, aber gelegentlich auch früher. Der Krach der Explosion selbst war etwas, woran die Leute sich nicht erinnerten, jedenfalls nicht diejenigen, die in der Nähe waren. Auf dem anderen Rheinufer, in Königswinter, wollten sie einen ganzen Krieg gehört haben, gingen mit schlotternden Gliedern und halb taub umher und grinsten sich wie Komplizen beim Überleben an. Diese verfluchten Diplomaten, versicherten sie einander, was war da schon zu erwarten? Man sollte sie allesamt nach Berlin verfrachten, wo sie unsere Steuergelder in Frieden ausgeben können! Nur die in der Nähe hörten zunächst überhaupt nichts. Das einzige, was sie sagen konnten - sofern sie überhaupt etwas sagen konnten -, war, dass die Straße sich geneigt oder ein Schornstein auf der anderen Seite sich lautlos vom Dach gehoben habe oder dass die Druckwelle durch ihr Haus gerast sei, wie sie ihre Haut gespannt, sie angefallen, zu Boden geworfen, die Blumen aus der Vase gerissen und die Vase gegen die Wand geworfen habe. Woran sie sich allerdings erinnerten, das war das Klirren zersplitternden Glases, das zaghaft-fegende Geräusch von jungem Laub, das auf die Straße fiel. Und das Wimmern von Menschen, die zu große Angst hatten zu schreien. So dass sie sich offensichtlich nicht so sehr des Krachs bewusst waren als vielmehr der Tatsache, dass der Schock sie ihrer natürlichen Sinneswahrnehmungen beraubt hatte. Nicht wenige Zeugen berichteten auch vom Lärm des Küchenradios beim französischen Botschaftsrat, das laut das Kochrezept des Tages hinausplärrte. Eine Ehefrau, die sich für besonders vernünftig hielt, wollte von der Polizei wissen, ob es möglich sei, dass sich die Lautstärke des Radios durch die Druckwelle erhöht habe. Bei einer Explosion, erwiderten die Beamten behutsam, als sie sie in eine Wolldecke gehüllt fortführten, sei alles möglich, doch in diesem Falle gäbe es eine andere Erklärung. Da die Fensterscheiben beim französischen Botschaftsrat alle herausgedrückt worden seien und niemand im Haus in der Verfassung gewesen sei, das Radio abzustellen, habe nichts es davon abhalten können, einfach auf die Straße hinauszureden. Aber sie verstand es überhaupt nicht.
    Die Presse war selbstverständlich bald zur Stelle und zerrte an den Absperrungen; die ersten überschwenglichen Berichte töteten acht und verwundeten dreißig und schoben die Schuld auf eine sonst nicht ernst zu nehmende rechts -extremistische deutsche Organisation namens ›Nibelungen 5‹ , die aus zwei geistig zurückgebliebenen Halbwüchsigen und einem verrückten alten Mann bestand, der nicht einmal imstande gewesen wäre, einen Luftballon so weit aufzublasen, dass er platzte. Bis Mittag war die Presse gezwungen, die Zahl der Toten auf fünf zu reduzieren (darunter ein Israeli), die der ernstlich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher