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Die Leute mit dem Sonnenstich

Die Leute mit dem Sonnenstich

Titel: Die Leute mit dem Sonnenstich
Autoren: Horst Biernath
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eigentlich gar keiner Klärung mehr bedürfen. Und was meine Meinung über Sie betrifft, mein lieber Herr Prack, so halte ich Sie für einen prächtigen Menschen! Mein Wort darauf! Ich bin entzückt von Ihrer unverfälschten Art, von Ihrer natürlichen Frische! Wo begegnet man in dieser Welt des Scheines und des Firnisses schon einem Mann wie Ihnen? Einem Mann von solch offenem Charakter und solch ehrlicher Geradheit des Wesens.« Er hätte in diesem Moment das Blaue vom Himmel heruntergelogen.
    »Freut mich, freut mich, Herr Keyser«, sagte Michael, vor Bosheit glitzernd, »dann können wir beide ja auch einmal ganz offen und ehrlich miteinander reden, wie? Eine Frage zuvor: Ihre Tochter ist doch mündig, nicht wahr?«
    »Gewiß«, murmelte der Alte Herr tonlos.
    »Schön, dann will ich Ihnen etwas sagen, und passen Sie gut auf, verehrter Herr Keyser! In dieser Welt des Scheins und des Firnisses, in dieser schnöden und powerigen Welt laufen solch junge Damen wie Ihre Tochter Marion nur in sehr wenigen Exemplaren herum. Ja, man kann von Glück sagen, wenn man einmal solch einer seltenen und kostbaren Gans mit goldenen Federn begegnet. Und man wäre ein ausgemachter Trottel, wenn man solch einen seltenen Vogel nicht finge und rupfte! Haben Sie mich verstanden?«
    Und diese haarsträubenden Unverschämtheiten brachte er nicht etwa laut, sondern mit sanfter Stimme und einem diabolischen Grinsen im Gesicht an den Mann.
    »Und das wagen Sie mir, dem Vater, ins Gesicht hinein zu sagen?« keuchte Herr Keyser wie abgewürgt.
    »Weil ich doch solch ein prächtiger Mensch mit unverfälschtem Charakter bin«, höhnte Michael, »solch ein ehrlicher Bursche, solch eine kerzengerade Natur!«
    Der kleine dicke Herr Keyser, der nach Addition dieser und aller voraufgegangenen Geschehnisse nicht mehr daran zweifelte, einem offenen Wahnsinnsausbruch gegenüberzustehen, entsann sich zum Glück in diesem Augenblick jener beglaubigten Anekdote, die besagt, daß der Philosoph Immanuel Kant, eines Tages bei einem Spaziergang auf den Wällen Königsbergs von einem tobsüchtigen Metzgergesellen mit dem Messer angefallen, nicht die Geistesgegenwart verlor, sondern den Mann, der ihn allen Ernstes abschlachten wollte, ruhig daran erinnerte, daß heute Mittwoch und somit kein Schlachttag sei — worauf der Mensch tatsächlich von ihm abließ und davonlief. Geradezu ein Beispiel der Geistesgegenwart! »Also, lieber Herr Prack, leben Sie wohl und auch weiterhin alles Gute!« sagte Herr Keyser heiter. Er ergriff Michaels Hand, schüttelte sie, winkte ihm fröhlich zu und zog sich, jeden Augenblick auf einen akuten Tobsuchtsanfall als Folge des Flugunfalls gefaßt und Michael unauffällig im Auge behaltend, langsam rückwärts gehend zur Hütte zurück. Dort warf er die Tür zu, riegelte sich ein und setzte sich, den Rücken gegen die Tür stemmend, wie er ging und stand, zu Boden, da ihn die Knie nicht mehr trugen.
    Michael seinerseits zweifelte bei diesem seltsamen Abgang nicht daran, daß bei Herrn Keyser vor Schreck eine Schraube locker geworden sei. Und ganz im Winkel regte sich auch sein Gewissen, daß er mit dem netten Alten Herrn so übel umgesprungen war.
    Aber Marions Zuruf unterbrach ihn in seinen zarten Regungen. Sie stand drüben auf dem Uferdamm und hielt triumphierend eine braune Papiertüte empor, die sie sorgfältig auf dem Rost des hinteren Sitzes unterbrachte, ehe sie ins Boot stieg und sich abstieß. Allzuviel schien sie, der Größe des Papiersacks nach zu schließen, nicht erwischt zu haben. Immerhin, als Michael das Boot auf der Insel an Land zog, stellte es sich heraus, daß sie ein gutes Pfund Weizenmehl, fünf Eier und ein Stück Bauerngeselchtes mitgebracht hatte. Nicht zuviel für drei Personen, aber auch nicht zuwenig. Mehr hatte sie leider nicht auftreiben können, da der Besitzer des kleinen Einödhofes, den sie eine knappe halbe Stande von der Insel entfernt entdeckt hatte, mit seiner Frau zum Begräbnis des Schwiegervaters nach Rennertshofen gefahren war und die alte Großmutter, die das Haus und den Hof hütete, sich nicht getraut hatte, ihr mehr zu verkaufen. Aber da der Bauer gegen Abend zurückerwartet wurde, so konnte man ja vor Anbruch der Dunkelheit noch einmal hinüberfahren.
    »Begräbnis des Schwiegervaters«, knurrte Michael, »was für eine schöne Feier!«
    Marion konnte sich den seltsamen Ausspruch nicht erklären. Herrn Keyser wäre die Erklärung leichtgefallen. Aber wenn er seiner Tochter gesagt
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