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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
Autoren: Paul Hoffman
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Außerdem wirkte der Sporn, wenn man ihn betrat, sehr viel brüchiger als beim bloßen Betrachten. Als er hinter Bosco stand, trat sein früherer Meister so unbekümmert zur Seite, als stünde er mitten auf einem Übungsplatz in der Ordensburg, und winkte Cale näher, bis dieser nur noch eine Handbreite von dem entsetzlichen Abgrund entfernt war, der sich unter ihnen auftat.
    Und Cale blickte auf die Welt hinaus und fühlte sich, als würde er mitten in den Himmel gehalten. Mit pochendem Herzen und weit aufgerissenen, erstaunten Augen schaute er über viele Meilen hinweg in den unendlichen blauen Himmel und darunter über die gelbe Erde, die sich in einem Bogen von schimmerndem Dunst mit dem Himmel vereinigte. Es schien, als sähe er die gesamte Welt vor sich und nicht nur einen bogenförmigen Ausschnitt, der ungefähr fünfzig Meilen umspannen mochte. Bosco schwieg mehrere Minuten lang, während Cale von der allumspannenden Größe wie erschlagen wirkte. Schließlich wandte sich Cale an seinen Meister.
    »Und?«
    »Erstens: deine Eltern. Ich habe die Gerüchte gehört…« Bosco unterbrach sich kurz, dann fuhr er fort: »Die Gerüchte aus Memphis, nicht lange, nachdem du Solomon Solomon erschlagen hast.«
    »Er bekam, was er verdiente, und das ist mehr, als man von den Männern sagen kann, die Ihr mir zu töten befahlt.« Von den vielen unangenehmen Erinnerungen, die beide gemeinsam hatten, war das die schlimmste. Bosco war vollkommen überzeugt gewesen, dass Cales mörderische Gabe von Gott inspiriert war. Nie war es ihm in den Sinn gekommen, dass der Kampf auf Leben und Tod gegen ein halbes Dutzend erfahrener, wenn auch entehrter Soldaten für einen Jungen von zwölf oder dreizehn Jahren ein zutiefst traumatisches Erlebnis darstellen würde, so geschickt oder kaltherzig dieser auch sein mochte.
    »Mir rutschte fast jedes Mal das Herz in die Hose, wenn ich dich in Gefahr wähnte.« Das war nicht so sehr gelogen, wie es scheinen mochte. Zunächst war Bosco begeistert gewesen, als sich die ersten Beweise für die Begabung des Jungen zum Töten zeigten. Die Beweise waren so herausragend, dass sie sich nur mit religiöser Inspiration hatten erklären lassen. Aber nach dem sechsten Mord war Bosco allmählich bewusst geworden, dass Gott möglicherweise seinen Wunsch nach weiteren Beweisen missbilligen könne und zulassen würde, dass Cale verletzt wurde, um Boscos Anmaßung zu bestrafen. Erst als Bosco die eigene Anmaßung klar wurde, begann er sich um Cale zu sorgen und setzte dem Morden ein Ende.
    Eher sein Staunen als bewusste Zurückhaltung hinderte Cale daran, Bosco hier und jetzt vom Großen Sporn zu stoßen. Der Mann, der ihn für jeden Grund, den ein bösartiger Mensch nur finden konnte, geschlagen und verprügelt hatte, und mindestens halb so oft auch noch aus gar keinem ersichtlichen Grund, brachte seine Sorge um ihn, Cale, zum Ausdruck, in einem Tonfall, der selbst in das härteste Herz einzudringen vermochte. Aber Cales Herz war noch sehr viel härter als das. Ließ er Bosco am Leben, so nur deshalb, weil seine Neugier sogar noch stärker war als sein Hass. Und außerdem warteten dort unten dreißig bösartige Dreckskerle auf ihn.
    »Erzählt mir von den Gerüchten.«
    »Nachdem du ihn getötet hattest, lief ein Gerücht um, dass die Erlöser dich entführt hätten, als du noch ein Kleinkind warst, und einer Familie angehörtest, die eng mit dem Dogen von Memphis verwandt war– dass du also ein Materazzi seiest und keineswegs ein niederes Mitglied des Clans.« Bietet Schweigen noch Raum für Entsetzen und Schock? Die Frage würde wohl jeder bejahen, der diesen Augenblick auf dem Großen Sporn miterlebt hätte.
    »Und ist es wahr?« Unwillkürlich war Cales Stimme nur noch ein Flüstern.
    »Auf keinen Fall. Deine Eltern waren ungebildete Bauern, die keinerlei Bedeutung hatten.«
    »Habt Ihr sie getötet?«
    »Nein. Sie haben dich an uns verkauft, für ein paar Kreuzer, und waren sogar noch froh über das gute Geschäft.«
    Das bellende Gelächter, das darauf folgte, verblüffte sogar Bosco.
    »Ich denke, du müsstest doch jetzt enttäuscht sein– über die Materazzi, meine ich–, aber es scheint dich zu belustigen, dass du für ein paar Kreuzer verkauft wurdest?«
    »Macht Euch keine Gedanken, worüber ich mich freue. Warum sind wir hier?«
    Bosco ließ den Blick über die große Ebene schweifen, die sich unter ihnen ausbreitete.
    »Als Gott beschloss, die Menschheit zu erschaffen, entnahm er seiner ersten
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