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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
Autoren: Paul Hoffman
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der Geschichte wird allmählich eine Legende, in der alle Gesichter undeutlich werden, obwohl das gewiss nicht im Interesse der zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreichen, unterschiedlichen und widersprüchlichen Überlieferer liegt. Und schließlich, möglicherweise nach tausenden Jahren, verschmelzen alle Absichten, gute und böse, vermischen sich alle Lügen mit jeder genauen Schilderung zu einem Sammelsurium unverbindlicher Möglichkeiten, zu einem Mythos, in dem alles wahr und alles unwahr sein mag. Wie dem auch sei, es spielt jetzt keine Rolle mehr. Aber in Wahrheit entfernen sich eben sehr viele Ereignisse von den Tatsachen, und zwar genau von dem Augenblick an, in dem sie sich ereignen: Sie werden zu einem einzigen großen Nebel von Mythen, noch ehe die Ereignisse selbst ihren ersten Sonnenuntergang erlebten. Zum Beispiel wurden die oben zitierten, reichlich holprigen Verse weniger als zwei Monate nach genau den Ereignissen niedergeschrieben, die sie durch so schlechte Reimkunst unsterblich machen wollen. Schauen wir uns doch einmal dieses Geschwafel Vers für Vers und Zeile für Zeile an.
    Thomas Cale war im Alter von drei oder vier Jahren– genau wusste das niemand, und es interessierte auch niemanden– zur grimmigen, düsteren Burg des Ordens des Gehenkten Erlösers gebracht worden. Kurz nach seiner Ankunft wurde er von einem der Priester dieser abstoßendsten aller Religionen auserwählt, dem Bruder Bosco, der in dem Gedicht dreimal erwähnt wird, nicht zuletzt deshalb, weil er selbst dafür gesorgt hatte, dass es überhaupt geschrieben wurde. Aber allein deswegen darf man nicht glauben, dass es durch so niedrige menschliche Beweggründe wie Eitelkeit oder Ehrgeiz inspiriert worden sei.
    Die Erlösermönche waren nicht nur berüchtigt für ihre unerbittlichen Ansichten im Hinblick auf die Sündhaftigkeit der Menschheit, sondern noch mehr für ihre ständige Bereitschaft, anderen ihre Denkweise durch militärische Eroberungszüge aufzuzwingen. Diese Feldzüge wurden von ihren Priestern angeführt, von denen die meisten so erzogen worden waren, dass sie vom Beten weit weniger Ahnung hatten als vom Kampf mit dem Schwert. Die Intelligentesten und die Frömmsten– eine Unterscheidung, die bei den Brüdern stärker verschwommen war als in anderen Bevölkerungsgruppen– waren verantwortlich dafür, dass die richtigen Glaubenssätze erlernt und der Glaube in allen eroberten und bekehrten Nationen in geordneter Weise verbreitet wurde und herrschte. Der Rest, die Militanten, war für den Dienst im bewaffneten Flügel des einen wahren Glaubens vorgesehen; sie wuchsen in den zahlreichen militärischen Kasernen auf, von denen die Ordensburg die größte war– wo viele allerdings auf Grund der harten Lebensbedingungen starben und das waren einem alten Witz zufolge die Glücklicheren. In der Ordensburg wählte Bosco Cale als persönlichen Schüler aus– eine Form von Begünstigung, die nur ein übernatürlich zähes Kind jemals zu überleben hoffen durfte. Mit vierzehn oder fünfzehn war Cale bereits ein außerordentlich kaltes und berechnendes Geschöpf, ein Wesen, dem man ganz bestimmt nicht in einer dunklen Gasse oder überhaupt irgendwo begegnen möchte. Ein Wesen, das offenbar nur von zwei Dingen beherrscht wurde: einem unendlichen Hass auf Bosco und einer totalen Gleichgültigkeit gegenüber allen anderen Menschen. Aber Cales alles umfassendes Unglück sollte sich zum noch Schlechteren wenden, denn eines Tages öffnete er versehentlich zum falschen Zeitpunkt die falsche Tür und entdeckte den Zuchtmeister Bruder Picarbo, der gerade eifrig damit beschäftigt war, ein junges Mädchen zu sezieren, das allerdings noch, wenn auch äußerst knapp, am Leben war, und der offenbar plante, diese Behandlung auch einem zweiten Mädchen zuteilwerden zu lassen. Statt nun Mitleid und Entsetzen zu empfinden, entschied sich Cale für die eigene Sicherheit, schloss leise die Tür und verschwand. Doch irgendetwas im Blick der jungen Frau, die als Zweite an der Reihe war, auf grausamste Weise ausgeweidet zu werden, veranlasste ihn umzukehren. In einem Anfall von Wahnsinn, den er angeblich für immer bereuen sollte, stürzte er sich auf Picarbo. Es folgte ein Kampf, in dessen Verlauf Cale einen Mönch tötete, der möglicherweise nur zehn Ränge unter dem Papst persönlich stand. Was der geneigte Leser zweifellos bereits über die Erlösermönche erfahren hat, mag hinreichend deutlich machen, welches Schicksal Cale nun erwarten
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