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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
Autoren: Paul Hoffman
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Lehrer und Meister hielt, bis sie auf einer ungefähr zwanzig Fuß breiten Felsplatte ankamen. Auf einer Seite stand ein einfach gebauter, aber sehr schöner Steinaltar.
    »Dies ist die Stelle, an der Jiftach seinen Schwur einlöste und dem Herrn seine einzige Tochter opferte.« Boscos Stimme klang eigenartig und keineswegs ehrerbietig.
    »Und ich vermute, der Fleck dort auf der Seite soll wohl von ihrem Blut stammen«, sagte Cale. »Sie muss ziemlich starkes Zeug in den Adern gehabt haben– ein Blutfleck, der tausend Jahre danach und mitten auf einem Berg noch zu sehen ist.«
    »Bei Gott ist alles möglich.« Er blickte Cale eine Zeit lang schweigend an. »Niemand weiß, wo er sie tötete. Dieser Altar wurde für die Gläubigen errichtet, manchen ist es erlaubt, am Bösen Freitag hierherzukommen. Am Tag nach ihrem Besuch kommt ein Maler und pinselt den Fleck neu, damit er bis zum nächsten Jahr gut verwittern kann.«
    »Also ist es nicht die Wahrheit.«
    »Was ist Wahrheit?«, fragte Bosco, erwartete jedoch keine Antwort.
    Nach zwei Stunden befanden sie sich nur noch etwa fünfhundert Schritt unterhalb der Schneegrenze und damit vor dem letzten Abschnitt, bevor sie zu Gott selbst sprechen konnten. Aber hier wandte sich Bosco plötzlich zur Seite und ging an der Schneegrenze entlang. Obwohl sie nicht mehr weiter hinaufstiegen, fiel ihnen das Gehen wegen der dünnen Luft doch immer schwerer. Cale verspürte die ersten Anzeichen von Kopfschmerzen. Als er Bosco um einen kleinen Felsvorsprung herum folgte, verlor er ihn für kurze Zeit aus den Augen, und als er wieder zu ihm aufschloss, prallte er fast gegen ihn. Bosco war stehen geblieben und blickte mit äußerster Konzentration auf einen flachen Felssporn, der waagrecht aus dem Berg ragte, wie der erste Spannbogen einer Brücke, deren Bau danach abgebrochen worden war.
    »Das ist der Große Sporn, auf dem Satan den Gehenkten Erlöser in Versuchung führte, indem er ihm die Macht über die Erde anbot.« Bosco drehte sich zu Cale um und schaute ihn an. »Ich will, dass du mir bis dorthin folgst«, sagte er und deutete auf die äußerste Spitze des Vorsprungs.
    »Nach Euch.«
    Bosco lächelte. »Ich lege mein Leben ebenso in deine Hände, wie du deins in meine Hände legst.«
    »Eigentlich nicht«, antwortete Cale. »Denn weiter unten warten dreißig Eurer Soldaten mit bösen Absichten.«
    »Das ist richtig. Aber glaubst du wirklich, ich hätte mir all die Mühe gemacht, nur um dich hier vom Felsen zu stoßen?«
    »Es wäre mir nun wirklich zu mühsam, mir Gedanken über Eure Gedanken zu machen.«
    Früher hätte Bosco Cale für eine solche Antwort schwer bestraft. Und Cale hätte die Bestrafung hingenommen. In diesem Augenblick wurde Cale etwas bewusst, obwohl er nicht genau hätte sagen können, was es war oder wie groß oder klein die Veränderung war, die sich in den vergangenen paar Monaten zwischen ihnen ereignet hatte.
    »Und wenn ich mich weigere?«
    »Ich kann dich nicht zwingen und werde es auch nicht versuchen.«
    »Aber Ihr würdet mich töten lassen.«
    »Um ehrlich zu sein– nein. Aber so groß dein Hass auf mich auch sein mag– etwas, das mir große Qual bereitet–, muss dir doch jetzt klar werden, dass wir beide, du und ich, untrennbar aneinandergekettet sind. Das ist wohl auch der Ausdruck, den du selbst gegenüber Arbell Materazzi benutzt hattest, als wir aus Memphis abmarschierten.«
    Vielleicht war Bosco bewusst, wie knapp er davorstand, sich das Genick brechen zu lassen, er zeigte es jedenfalls nicht. Aber er zeigte das ängstliche Bemühen, das Cale völlig unerklärlich war, eines Menschen, der unter allen Umständen verstanden werden wollte und gleichzeitig fürchtete, dass man ihn nicht verstehen könne. »Außerdem«, fuhr Bosco fort, »muss ich dir etwas über deine Eltern erzählen.« Er drehte sich um und schritt auf den Großen Sporn hinaus. Cale starrte ihm einen Augenblick lang nach, schockiert über das, was soeben gesagt worden war, was Bosco zweifellos beabsichtigt hatte. Es ist schwer, die Gefühle eines Menschen wie Cale nachzuempfinden, für den die Vorstellung eines Vaters und einer Mutter ungefähr so abstrakt war wie der Gedanke an das Meer für einen Bergbauern. Was würde ein solcher Mensch fühlen, würde man ihm erklären, der Ozean läge direkt hinter dem nächsten Hügel? Cale ging ebenfalls auf den Sporn hinaus, aber sehr viel vorsichtiger als Bosco. Cale hatte keine Angst vor der Höhe, aber er liebte sie auch nicht.
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