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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
Autoren: Paul Hoffman
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verzehrt wurde, kam Cale nicht umhin, sich darüber zu wundern, wie sehr sich Boscos Verhalten ihm gegenüber verändert hatte. Seit Cale ein kleiner Junge gewesen war, hatte Bosco ihn angetrieben wie ein Schiff im Sturm– erbarmungslos, unnachgiebig, mitleidlos, grausam, ohne jemals nachzulassen, ohne ihm jemals Zeit und Platz zu bieten, sich auszuruhen. Tag um Tag, Jahr um Jahr hatte er ihn gelehrt und bestraft, bestraft und gelehrt, bis er kaum noch zwischen beidem unterscheiden konnte. Und jetzt– jetzt war da nur noch eine große Zurückhaltung, eine große Sanftheit, fast so etwas wie Zärtlichkeit. Warum war das so? Cale hatte keine Antwort darauf, selbst dann nicht, wenn er kurzzeitig von seinen Phantasien bezüglich der Ermordung Arbells ablassen konnte, um darüber nachzudenken. Obwohl die Hämmer des Hasses in seiner Seele eine üble Kakophonie erzeugten, achtete Cale dennoch darauf, durch welche Gebiete sie zogen, was wiederum dazu führte, dass er einen Augenblick des Verstehens erlebte, wenn auch nicht gerade der Belustigung– dazu befand er sich an einem zu düsteren Ort. Immerhin konnte er nun erkennen, warum der Berg Große Hode genannt wurde. Aus der Nähe betrachtet verschwand die Sanftheit der Umrisse des Berges, die man aus dreißig Meilen Entfernung wahrnahm. Jetzt war daraus eine Felsformation geworden, die von scharfen Kämmen durchzogen war, von Schluchten und Gräben, die vom Wasser herausgeschnitten worden waren, aber nicht in einer Richtung, sondern auch kreuz und quer, verwirbelt und wild durcheinander, und die dort, wo der Fels aus dem härtesten Gestein bestand, sogar wieder in gegenläufiger Richtung verliefen. Aus solcher Nähe fühlte man sich wie ein winziger Floh, der sich verzweifelt abmühte, über den runzeligen Hodensack eines alten, gewaltigen Riesen zu kriechen.
    Ein Marsch durch dieses unentrinnbare Labyrinth wäre unendlich schwierig gewesen, obwohl hier die Ausläufer des Berges noch nicht einmal besonders steil waren, wäre er nicht durch einen Pfad erleichtert worden, den die Montanarden über die Kämme und durch die zahllosen, teilweise vom Geröll aufgefüllten Schluchten und Hohlwege angelegt hatten. Das hatten sie nicht getan, um einen Frevel zu begehen, sondern weil sie an die Salzlagerstätten herankommen wollten, die über die mittleren Ausläufer des Berges verstreut lagen. In den mehr als achtzig Jahren, in denen sie über den heiligsten Ort des Erlöserordens herrschten, hatten die Montanarden ein riesiges Netz von Schächten und Tunneln gebaut. Ob es nun ein absichtlicher Frevel gewesen war oder nicht, hatte die Erlösermönche später allerdings nicht sonderlich interessiert. Denn als sie nach einer durch ihre Religionskriege verursachten Schwächeperiode wieder als Macht neu erstanden waren, hatten sie die Gotteslästerung grausam vergolten und die Montanarden vollständig– Männer, Frauen und Kinder– ausgelöscht.
    Hatte man die Große Hode erst einmal hinter sich, stieg der Berghang steiler an, allerdings nicht sehr stark. Trotz seiner Höhe war der Tigerberg nicht schwer zu ersteigen. In den jetzt gleichmäßiger geformten Hängen befanden sich viele kleine Höhlen, die aufgegebenen Eingänge zu den Salzlagerstätten, die zwischen dreißig und hundert Fuß tief unter der Oberfläche lagen. Trotz seiner üblen Stimmung konnte Cale nicht verhindern, dass die faszinierenden Eigenarten dieser heiligen Landschaft seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Zwar fehlten ihr tiefe Schluchten und gefährliche Bergrisse, aber der Marsch wurde trotzdem immer beschwerlicher, und schon bald waren sie gezwungen, abzusteigen und die Pferde über die grob in den Fels geschlagenen Pfade zu führen. Schließlich erreichten sie einen schmalen Pass, der auf beiden Seiten von steil aufragenden Felswänden begrenzt war.
    Bosco befahl den Männern, hier das Nachtlager aufzuschlagen, obwohl es erst früher Nachmittag war. Er drehte sich zu Cale um und sprach ihn zum zweiten Mal direkt an.
    »Die Männer bleiben hier. Wir müssen weiter. Ich muss dir etwas zeigen. Und eine Sache muss dir absolut klar sein. Von diesem Berg führt nur ein einziger Weg herunter, und er führt durch diesen Pass. Solltest du versuchen, allein zurückzukehren, weißt du, was passieren wird.«
    Mit dieser sanften Warnung wandte er sich um und durchquerte den Pass. Cale folgte ihm. Sie stiegen etwa eine halbe Stunde weiter auf den Berg hinauf, wobei sich Cale stets zehn Schritte hinter seinem früheren
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