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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
Autoren: Paul Hoffman
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seine ungeheure Größe, die nicht von Menschen gemacht sein konnte– hunderttausendmal größer als die Pyramide von Lincoln. Es ist unschwer zu erkennen, warum dieser Berg von so vielen unterschiedlichen Glaubensrichtungen als einzige Stelle auf der Erde angesehen wird, an der Gott direkt zur Menschheit spricht. Hier, auf dem Gipfel des Tigerbergs, empfing Moses die Steintafeln, auf denen die sechshundertdreizehn Gebote geschrieben standen. Und hier geschah es, dass Jiftach, der Sohn Gileads, nach dem Sieg über die Ammoniter, wenn auch erst nach einigem Zögern, seiner einzigen Tochter die Kehle durchschnitt und damit sein dem Herrn gegebenes Versprechen einlöste, ihm das erste Lebewesen zu opfern, das ihn bei seiner Heimkehr begrüßte. Willig ging sie mit ihm, und bis zum letzten elenden Moment hoffe der unglückliche Jiftach auf ein mitleidiges, erlösendes Zeichen– eine Stimme, einen Engelsboten, irgendeinen strengen, aber barmherzigen Beweis, dass dies nur eine Prüfung seiner Ergebenheit und seines Glaubens sei. Aber Jiftach kehrte allein vom Tigerberg zurück. Und hier, auf dem Großen Sporn, einem Felsvorsprung knapp unterhalb der Schneegrenze, geschah es auch, dass der Teufel selbst, veranlasst durch den Herrn, dem Gehenkten Erlöser die ganze Welt zeigte, die dort unten vor ihm lag, und sie ihm anbot.
    Andererseits hatte der Berg bei den Montanarden, einem Stamm, in dessen Alltag wenig Platz für Religiöses war und der den Berg seit achtzig und ein paar Jahren beherrschte, einen ganz anderen Namen. Sie nannten ihn Große Hode. Die Frage, warum das so war, begann Cale zu beschäftigen, als er mit dem Kriegsmeister Bosco und dreißig Wächtern die unteren Ausläufer des Bergs hinaufstieg.
    Würde man Cales Stimmung als schlecht bezeichnen, käme es einer ungeheuren, ungerechten Untertreibung gleich. In keiner jemals gesprochenen Sprache gibt es ein Wort dafür, mit dem sich das Durcheinander in seinem Herzen beschreiben ließe, seinen Hass bei der bloßen Vorstellung, in die Ordensburg zurückkehren zu müssen, die Bitterkeit über den Verrat durch Arbell Materazzi, die, wie bereits erwähnt, unter dem Beinamen Schwanenhals bekannt war und über deren entsprechende Schönheit und Anmut nichts mehr gesagt werden muss– nichts über die Feingliedrigkeit ihrer unendlich langen schlanken Beine, den atemberaubenden Schwung ihrer schmalen Hüfte, die wunderbaren Wölbungen ihrer Brüste– sie waren nicht stolz, ihre Brüste, sondern über alle Maßen arrogant–, nein, nichts von alldem soll hier noch gesagt werden. Sie war in der Tat ein Schwan in Menschengestalt. Vor seinem geistigen Auge stellte sich Cale vor, wie er ihr den weißen Schwanenhals umdrehte, nur um sie dann auf wundersame Weise wieder neu beleben und sie immer und immer wieder erneut töten zu können– einmal durch ein gewaltsames, knackendes Brechen ihrer Glieder, ein anderes Mal durch ein langsames, grausames Erwürgen, vielleicht noch gefolgt vom Herausreißen und Verbrennen ihres noch pochenden Herzens, um dann am Schluss ihre Asche gründlich durchzurechen, um ganz sicherzugehen.
    Zwei Wochen waren verstrichen, seit sie aus Memphis abmarschiert waren, und in der ganzen Zeit hatte Cale kein einziges Wort von sich gegeben, nicht einmal, um zu fragen, warum sie mitten in der Einöde abrupt die Marschrichtung geändert hatten und sich nun wieder von der Ordensburg entfernten. Insgesamt erschien es Bosco besser, seinen früheren Akoluthen im eigenen Saft schmoren zu lassen. Aber er hatte Cales Begabung für stumme Wut unterschätzt; denn schließlich entschloss er sich, das Schweigen zu brechen.
    »Wir marschieren zum Tigerberg«, erklärte Bruder Bosco sanft und sogar mit einer gewissen Freundlichkeit. »Ich muss dir dort etwas zeigen.«
    Man könnte nun meinen, dass jemand, dessen Herz vom Hass auf eine Person bereits derart zerfressen war, nicht mehr genug Gefühl übrig haben würde, um auch noch eine weitere Person mit derselben Intensität zu hassen. Das war teilweise richtig, aber Cales Herz war, wenn es um Hass ging, nicht nur zäher, sondern auch viel geräumiger als das Herz anderer Menschen: Seine Abneigung gegenüber Bosco war lediglich ein wenig vom Zentrum des Feuers weggerückt worden, gewissermaßen zu den Schamottesteinen hinten im Kamin, wo sie warm vor sich hin glühte, aber jederzeit wieder ins Feuer gerückt und bis zur Weißglut erhitzt werden konnte. Obwohl er derzeit von seinem Hass auf Arbell fast völlig
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