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Die letzte Offenbarung

Die letzte Offenbarung

Titel: Die letzte Offenbarung
Autoren: Stephan M. Rother
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Tür hinter sich abgeschlossen, und den einzigen anderen Schlüssel besaß der capo . Entschlossen nahm er ein Messer mit dünner Lanzettspitze zur Hand und schlitzte den Einband im Falz der Länge nach auf.
    Fünf Minuten später lagen insgesamt elf Papyrusstreifen untereinander auf seinem Arbeitstisch. Alle waren sie mit bräunlichen Schriftzeichen bedeckt, griechischen Schriftzeichen, und sie waren nicht byzantinisch oder auch nur annähernd zeitgenössisch zu Walahfrids Arbeit.
    Sie waren älter. Sehr viel älter.
    Amadeo mochte sich nicht ausmalen, wie viel älter.
    Er las den Text und konnte sich nicht rühren. Er konnte nicht erfassen, nicht begreifen, was er hier vor sich hatte.
Die letzte Offenbarung
    Am Anfang war das Wort .
    Doch das ist nicht die Wahrheit .
    Am Anfang war sein Blick, an jenem Tag in Kana. Sein Blick, der niemanden wahrzunehmen schien von den Feiernden, die unter den Zelten versammelt waren, um die Hochzeit zu begehen .
    Am Anfang war sein Blick, der weit fort war, Zwiesprache hielt mit dem, der ihn gesandt hatte. Seine Hände, die langen, kräftigen Finger des Zimmermanns, der er so viele Jahre gewesen war, bis er den Ruf vernahm: Es ist an der Zeit .
    Und es war an der Zeit an jenem Tag in Kana. Wie oft habe ich mir die Frage gestellt, wann er selbst erkannt hat, wohin der Weg ihn am Ende führen würde. Ob er es immer schon gewusst hat, seine Bestimmung kannte vom Tage seiner Geburt an. Doch darüber kann ich nichts sagen, denn er hat niemals zu mir darüber gesprochen .
    Andere haben davon geschrieben, berichtet von dem, was sich vorher zugetragen hat — denn natürlich gab es in späterer Zeit viele Geschichten darüber. Vielleicht hatte er den anderen mehr erzählt, jenen, die bereits bei ihm waren, seit er auf den Täufer getroffen war. Andreas war damals schon bei ihm und sein Bruder natürlich, Simon Petrus. Philippus zudem und Nathanael, den wir Bartholomäus nannten. Vielleicht haben sie ihr Wissen weitergegeben, an jene, die von seinem Leben berichtet haben, wie auch ich von seinem Leben berichtet habe .
    Doch noch einmal: Das ist nicht die Wahrheit .
    Sie haben ihn gekannt, und doch kannten sie ihn nicht, wie ich ihn kannte. Sie haben ihn nicht geliebt, wie ich ihn geliebt habe — und wie er mich geliebt hat. Sie wussten niemals, wie sein Leib sich anfühlte. Das Wort wurde Fleisch. Und keiner von ihnen hätte sagen können, was das wirklich bedeutete .
    Ich hätte es sagen können, und doch habe ich es nicht getan. Bis zu diesem Tage habe ich geschwiegen .
    Nun aber will ich berichten, von jenem Augenblick an, an dem ich vor den Tischen stand und seine Mutter mich fragte, ob sie noch etwas von dem Wein haben könne .
    Ich hörte ihre Worte kaum, denn seit ich ihn gesehen hatte, seitdem ich diesen Blick gesehen hatte, der niemanden im Raum wahrzunehmen schien, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an ihn .
    Doch dann besann ich mich. Schließlich war mir wie den anderen Jungen aufgetragen, den Festgästen aufzuwarten. Der Vater des Bräutigams hatte jedem von uns eine Münze versprochen, von jenen mit dem Bild des Kaisers darauf .
    »Verzeiht, Mütterchen«, sagte ich. »Wir haben keinen Wein mehr.«
    Sie lächelte verzeihend. Wie ähnlich ihr Lächeln dem seinen war. Viel später, als er lange schon fort war, versetzte es mir jedes Mal einen Stich, wenn sie mich in dieser Weise ansah .
    Sie stieß ihm leicht in die Seite. »Sie haben keinen Wein mehr«, sagte sie. Nicht mehr .
    In diesem Augenblick muss er es erkannt haben. In diesem Augenblick muss er erkannt haben, dass es kein Zurück mehr geben würde, wenn er tat, was sie von ihm erwartete. Sie — und das, was vor ihm lag .
    Doch er ist immer ein gehorsamer Sohn gewesen, seiner Mutter nicht weniger als dem, der ihn gesandt hatte. Er war immer in Sorge um Maria .
    Weib, siehe, dies ist dein Sohn. Das sprach er Jahre später, als er am Kreuz hing und sie in meine Hände gab. Doch er muss es in jenem Augenblick erkannt haben. Erkannt haben, dass der Weg ihn dorthin führen würde. Alle diese Dinge: Dass er Petrus seine Kirche anvertrauen würde, mir aber seine Mutter. Wenn man es recht bedenkt: Haben wir nicht beide das gegeben, was er erwarten konnte?
    Wenn er es erkannte — ich konnte damals nichts davon ahnen. Ich erschrak, als sein Blick sich plötzlich veränderte, als er sie heftig anfuhr: » Was soll das, Weib? Meine Stunde ist noch nicht gekommen!«
    Natürlich konnte ich das damals nicht begreifen. Die
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