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Die letzte Offenbarung

Die letzte Offenbarung

Titel: Die letzte Offenbarung
Autoren: Stephan M. Rother
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schon sagte, besonders geheimen Projekten vorbehalten war. Nur Giorgio di Tomasi selbst besaß einen Schlüssel zu diesen Räumen — und der Restaurator, der mit dem jeweiligen Fall betraut war. Erst auf Aufforderung des capo hatte Niccolosi seinen Schlüssel grummelnd rausgerückt.
    Amadeo trat von der Arbeitsfläche zurück. Wenn ein Laie an die Tätigkeit eines Restaurators, insbesondere an die eines Bücherrestaurators dachte, machte er sich mit Sicherheit falsche Vorstellungen. Er würde sich enge, staubige Bibliothekskorridore vorstellen, den Geruch nach Staub und Alter, dazu flackerndes, gedämpftes Licht. Gewiss, das alles spielte zuweilen eine Rolle — schon aufgrund der Tatsache, dass altes Papier und Pergament sehr empfindlich auf Licht reagierten —, der Alltag in der officina di Tomasi sah allerdings anders aus.
    Bei seinem ersten Besuch im Sekretum hatte Amadeo sofort an einen Operationssaal denken müssen, oder eher noch an einen Seziersaal. Mit der Arbeit eines Pathologen hatte seine Tätigkeit sogar eine gewisse Ähnlichkeit: Er sezierte Bücher, versuchte herauszufinden, wie sie gebunden waren, wie schwer die Beschädigung war und wie dieser am besten beizukommen war. Gleichzeitig versuchte er so viel wie möglich von der Originalsubstanz zu erhalten. Die Einbände als solche, die hölzernen oder metallverstärkten Buchdeckel und die handgefertigten Buchrücken waren keine geringeren Kunstwerke als die mit kostbaren Malereien geschmückten Manuskripte selbst.
    Was sich in dem Karton befand, den der capo ihm anvertraut hatte, war in einem beklagenswerten Zustand. Zum Glück waren die meisten Fälle jedoch nicht hoffnungslos. Die Buchblöcke waren noch intakt, und wie Giorgio di Tomasi schon angedeutet hatte, hatten die Exemplare kein Wasser gezogen. Er würde die Bindung erneuern müssen, konnte aber das Originalmaterial wiederverwenden.
    Und dann war da noch der Hortulus . Ehrfürchtig blätterte Amadeo in den losen Seiten. Der Buchblock hatte sich beinahe komplett aus dem Einband gelöst, die Bindung war an mehreren Stellen gebrochen und im Begriff, sich in Wohlgefallen aufzulösen. Das geschulte Auge des Restaurators entdeckte Schäden, die einem Laien verborgen geblieben wären. Ja, es gab auch Wasserschäden, allerdings waren sie schon älter. Mit einer Gänsehaut studierte er die Manuskriptseiten.
    Der Hortulus war eines der großen mittelalterlichen Werke der Gartenbaukunst. Sein Autor Walahfrid Strabo, der große Abt des Klosters auf der Insel Reichenau im Bodensee, war ein bedeutender Mann gewesen — in mehrfacher Hinsicht. So hatte er Karl dem Kahlen, dem Enkel Karls des Großen, als Lehrer, Erzieher und Berater gedient. Vor allem aber hatte er dieses Werk hier verfasst, das mehr war als nur eine Anleitung zum Gartenbau und zur Landwirtschaft. Der hymnische Ton, in dem die lateinischen Verse verfasst waren, war ein Lobpreis der Pflanzenwelt und zugleich ein Lobpreis Gottes. Dieses Werk suchte seinesgleichen in der Welt des Mittelalters, und es war in unzähligen Abschriften überliefert.
    Amadeo war sich sicher, dass dieses Exemplar in der Literatur unbekannt war. Das war mehr als erstaunlich, denn... Nein, nein, das war undenkbar. Dieser Text konnte nicht Walahfrids Original sein! Wenn er jedoch den Charakter der Schriftzeichen betrachtete, die prachtvollen, sorgfältig gerundeten Großbuchstaben: das Musterbeispiel einer frühmittelalterlichen Unzialschrift. Ja, das war mit ziemlicher Sicherheit eine Arbeit des neunten Jahrhunderts, eine direkte Abschrift des Originals vielleicht. Nichts, was der Forschung heute bekannt war, stand Walahfrids Handschrift so nahe wie dieses zerfledderte Manuskript.
    Warum in Gottes Namen versteckt der Vatikan ein Gartenbuch?, dachte er und massierte seine Schläfen. Ob man sich dort überhaupt im Klaren war, was allein dieser Fund bedeutete? Etliche der anderen Bücher waren gewiss ähnlich alt. Wer weiß, worauf er noch stoßen würde.
    Vorsichtig lehnte er den Hortulus gegen den Stapel der bereits geprüften Manuskripte, aber die Walahfrid-Handschrift wollte nicht richtig stehen. Der Einband war verzogen und schief. Es war besser, wenn er das Buch auf den Deckel legte. Seufzend betrachtete Amadeo den Rücken des Werkes. Eine wundervolle Arbeit. Rindsleder, soweit sich das sagen ließ, früher einmal mit Silber beschlagen, das dem Buch — vermutlich aufgrund des Materialwertes — geraubt worden war.
    Unter dieser äußersten Pergamentschicht war der
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