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Die letzte Offenbarung

Die letzte Offenbarung

Titel: Die letzte Offenbarung
Autoren: Stephan M. Rother
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Rücken mit zusätzlichen Lagen von Pergament verstärkt worden. Solange der Einband intakt war, blieben sie unsichtbar, jetzt lugte indes ein Fetzen hervor. Deshalb wollte das Buch nicht richtig stehen.
    Amadeo versuchte ihn in die Bindung zurückzuschieben. Es wollte ihm nicht gelingen. Er presste fester, aber das einzige Ergebnis bestand darin, dass sich an der Innenseite des Buches ein Riss in der Bindung auftat. Sofort hielt der Restaurator inne. So kam er nicht weiter. Der Einband war nicht zu retten. Er würde einen Weg finden müssen, ihn zu rekonstruieren — wenn irgend möglich aus den Originalbestandteilen.
    Vorsichtig zog er den Pergamentstreifen hervor und stutzte. Seine Finger strichen über die faserige Oberfläche.
    Das war kein Pergament. Er pfiff durch die Zähne. Papyrus. Das war äußerst ungewöhnlich. Der antike Beschreibstoff war im frühen Mittelalter durch das Pergament verdrängt worden. Papyrus hatte zwar entscheidende Vorteile gegenüber dem aus Tierhäuten hergestellten Pergament, seitdem jedoch im siebten Jahrhundert die Muslime in Ägypten eingedrungen waren, war immer weniger davon nach Europa gekommen. Im neunten Jahrhundert, als Walahfrid Abt der Reichenau war, hatte Papyrus im Frankenreich schon keine Rolle mehr gespielt. Stammte das Buch etwa gar nicht aus dem Frankenreich?
    Amadeo seufzte tief. Nein, die Schriftzeichen sprachen eine deutliche Sprache. Dieses Manuskript war mit Sicherheit auf der Reichenau angefertigt worden, oder zumindest ganz in der Nähe. Wo genau, ließ sich nicht so ohne weiteres sagen, aber mit Sicherheit nicht südlich der Alpen, wo der Papyrus länger in Gebrauch geblieben war.
    Andererseits... was er hier in der Hand hielt, war ja nicht Teil des Manuskripts. Vermutlich war es ein Streifen eines älteren Werkes, den man zur Verstärkung eingesetzt hatte. Dieses zusätzliche Pergament...
    Amadeo runzelte die Stirn.
    Es war gar kein Pergament! Es war Papyrus! Wer im Himmel verstärkte einen Buchrücken mit Papyrus? Das war völliger Unsinn. Die Pflanzenfaser war viel zu empfindlich.
    Dennoch hielt er einen Streifen Papyrus in der Hand, auf dem sich bräunlich und blass Schriftzeichen abhoben.
    »En arche en ho logos.«
    Das war griechisch! Das war der Beginn des Johannesevangeliums!
    Streifen eines griechischen Johannesevangeliums — Papyrusstreifen! — im Rücken eines Hortulus aus dem neunten Jahrhundert. Amadeo hob die Achseln. Er konnte sich nicht erinnern, von so etwas schon einmal gelesen zu haben.
    Auf seinem Arbeitsstuhl drehte er sich zu einem hohen Schubladenschrank um. Er war ganz vorsichtig, allerdings konnte hier nicht viel passieren. Es fiel ihm nicht leicht, ohne caffè zu arbeiten, doch wenn der capo ihn im Sekretum bei einem Tässchen ertappte, würde ihn auch sein akademischer Ruf nicht mehr retten. Dann konnte er gleich eine Bewerbung bei den römischen Stadtwerken tippen. Amadeo öffnete eine flache Schublade, in der Pinzetten, kleine Messer und Scheren und eine Reihe anderer Instrumente versammelt waren. Er wählte eine Pinzette und beugte sich wieder über den Tisch. Stirnrunzelnd zog er eine Tischlupe heran, die an einem Teleskoparm in der Arbeitsfläche verankert war. Amadeo drückte einen Knopf, und helles Halogenlicht flammte auf. Vorsichtig schob er das Papyrusfragment unter die Lupe, strich es glatt und las weiter.
    In der zweiten Zeile zogen sich seine Augenbrauen zusammen.
    In der dritten kroch ihm eine Gänsehaut über den Rücken.
    Dann brach der Text ab.
    Amadeo starrte auf den beschriebenen Fetzen, vielleicht zwölf Mal fünf Zentimeter groß, der vor ihm auf dem Tisch lag. Mit den Fingerspitzen massierte er seine Schläfen, las noch einmal.
    »Was ist das?«, murmelte er. »Maledetto , was ist das?«
    Er griff noch einmal nach dem Hortulus , schob ihn in den Händen hin und her. Aus der Schublade wählte er eine lange Pinzette und führte sie unter den Buchrücken, ganz vorsichtig, Zoll um Zoll. Tatsächlich, da war noch mehr.
    Millimeterweise zog er seinen Fund hervor — und fluchte. Das Pergament war gerissen, ohne dass er es gemerkt hatte. Der Streifen, den er zum Vorschein gebracht hatte, war genauso breit wie jener, der bereits auf dem Tisch lag, nur das letzte Stück war abgerissen.
    Was auch immer sich noch im Rücken des Hortulus verbarg — so würde er nicht herankommen.
    Amadeo sah sich über die Schulter um. Das Sekretum besaß keine Fenster, sondern wurde nur von künstlichem Licht erhellt. Er hatte die
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