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Die letzte Offenbarung

Die letzte Offenbarung

Titel: Die letzte Offenbarung
Autoren: Stephan M. Rother
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Angst nicht begreifen, die von ihm Besitz ergriffen hatte, als er erkannte. Die heftige Gegenwehr, die verzweifelte Hoffnung, die Stunde hinausschieben zu können, auf die von diesem Augenblick alles hinauslaufen würde .
    Doch er wusste sehr genau, dass das nicht möglich war .
    Und so war er ein gehorsamer Sohn, und er trat zu den Krügen, in denen sie das Wasser für die Reinigung vor dem Mahle verwahrten, und es wurde Wein daraus .
    Damit hat es begonnen. Und von diesem Tag an werde ich berichten. Ich, der ich ein Fleisch war mit ihm. Fleisch vom Fleische Gottes .
    Vergesst nicht, was ich und andere zuvor berichtet haben. Denn auch jenes ist Wahrheit — auf seine Weise. Ich habe nicht gelogen .
    Doch ich habe Dinge verschwiegen. Bis heute .
    Bei einer der Gelegenheiten, als er nach der Kreuzigung zu uns zurückkehrte, sprach er zu Petrus: »Wenn ich will, dass er am Leben bleibt, bis ich zurückkehre: Was geht dich das an?«
    Wie hätte ich das anders verstehen sollen, als dass er sagen wollte: Ich komme wieder, noch zu deinen Lebzeiten, Johannes, werden wir uns wiedersehen .
    So glaubte ich, die Wahrheit in meinem Herzen verschließen zu können, die außer ihm und mir nur wenige kannten. Denn wir würden uns wiedersehen .
    Heute aber, da ich in meinem Heim hier in Ephesus sitze — zittrig die Hand, die die Feder führt, und übersät von den Flecken des Alters —, heute glaube ich, dass es anders kommen wird. Ich werde sterben, und dann wird niemand mehr da sein, der Zeugnis ablegen kann .
    Es ist an der Zeit .
    Dies ist meine letzte Offenbarung .
IV
    Verging Zeit? Wie viel? War sie messbar? Wenn draußen in der Via Oddone die Schatten schon länger wurden und die Straßencafés sich zu beleben begannen, konnte Amadeo das hier im Sekretum nicht sehen. Hätte er es sehen können, so wäre er kaum in der Lage gewesen, es zur Kenntnis zu nehmen.
    Seine Augen glitten über die schmalen Papyri. Er hatte die elf Streifen von etwa derselben Länge der inhaltlichen Reihenfolge nach sortiert und dann mit einer Glasplatte fixiert. Nun las er sie. Las sie ein um das andere Mal. Selbst als er aufgehört hatte zu lesen, da er die Worte längst auswendig kannte, glitten seine Augen noch immer über den Text. Selbsttätig, mechanisch. Ohne dass eine neue Erkenntnis zu ihm durchdrang.
    »Maledetto!« Es war ein raues Krächzen.
    Amadeo zuckte zusammen, wollte sich umblicken. Wer hatte da gesprochen? Auf einmal begriff er, dass es seine eigene Stimme gewesen war. »Was zur Hölle ist das?«, flüsterte er.
    Seine Finger kribbelten, sie waren eiskalt. Amadeo stellte fest, dass sie schneeweiß waren, abgestorben bis zum Handrücken. Er zwang sich, die Hände zu öffnen und zu schließen, rhythmisch. Wie lange saß er schon hier und starrte auf elf zerschlissene Papyrusstreifen? Versuchsweise bewegte er die Arme in den Schultergelenken, um die verspannte Nackenmuskulatur zu lockern. Es tat höllisch weh. Du hast Schmerzen, dachte er. Du musst dich nicht kneifen, es kann kein Traum sein. Doch es fühlte sich an wie ein Traum. Das konnte nicht echt sein. Diese Handschrift konnte nicht echt sein. Zu viel sprach dafür, dass der Papyrus eine Fälschung war. In dieser Wortwahl schrieb man nicht vor zweitausend Jahren. Das war... Amadeo fiel es schwer, es in seinem Kopf in die richtigen Worte zu kleiden. Es war zu tief empfunden. Es war nicht das Denken, nicht das Fühlen eines Menschen der Antike. Es klang nicht wie ein historischer Text. Niemand hätte vor zweitausend Jahren solche Worte zu Papier — zu Papyrus — gebracht.
    Wer immer dieses Manuskript zerschnippelt hatte, um damit einen Buchrücken zu verstärken, musste das bereits erkannt haben. So, nur so ergab es einen Sinn.
    Das ist blanker Unsinn, erinnerte er sich. Man kann mit Papyrus keinen Codex verstärken. Außerdem waren da noch die griechischen Buchstaben. Ihrer Form nach waren sie uralt, ohne dass Amadeo sie auf das Jahrzehnt genau oder auf eine bestimmte Region hätte einordnen können. Der gesamte Orient war damals, in den Jahrhunderten der Zeitenwende, hellenistisch geprägt gewesen. Seit Alexander dem Großen sprach — und schrieb — man die Sprache und die Buchstaben der Griechen. Selbst als die Römer Provinz um Provinz annektierten, war Latein zwar die Sprache der offiziellen Verwaltung, die Sprache der Gebildeten blieb hingegen das Griechische.
    Wenn er diese Papyri betrachtete, hätte er sie jederzeit für eine zeitgenössische Handschrift des Plutarch,
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