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Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)

Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)

Titel: Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
Autoren: Peter de Jonge
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einen halben Straßenzug östlich von der Chrystie Street.
    Um 3.30 Uhr gegen Ende des Jahres 2005 gehört die Ecke, an der Rivington und Chrystie Street aufeinandertreffen, zu den dunkelsten und einsamsten Orten der Lower East Side. Um 3.30 Uhr am Morgen von Thanksgiving hätte es ebenso gut auch die dunkle Seite des Mondes sein können und Pena weiß, dass es keinen Sinn hat, auch nur zu versuchen, ein Taxi anzuhalten, bis sie nicht wenigstens die Houston Street erreicht hat. Drei wankende Schritte später merkt sie, dass sie nicht so viele alberne Cocktails durcheinander hätte trinken sollen. Dafür wird sie büßen müssen. Sie kauert sich zwischen zwei parkende Autos.
    »Alles klar?«, fragt eine Stimme hinter ihr.
    »Verpiss dich, verdammte Scheiße«, faucht sie und würgt.

3
     
    Detective Darlene O’Hara leckt sich die Preiselbeersauce vom Daumen und genießt den vorletzten Bissen ihres selbstgemachten Truthahn-Sandwichs. Sie verspeist dieses bescheidene Festmahl im zweiten Stock des 7. Polizeireviers von Manhattan und blickt auf die windgepeitschte Schneise, die durch die Lower East Side führt und in der sich so viel unansehnliche städtische Infrastruktur – darunter eine Schnellstraße, Brückenauffahrten, Dutzende von sozialen Wohnblocks und das gedrungene Reviergebäude – an den East River drängt. Das 7. ist mit einem Zuständigkeitsbereich von kaum mehr als einem Quadratkilometer das zweitkleinste Revier der Stadt. Seine sonderbar korrekte Anschrift lautet Pitt Street 19½, wobei die Trostlosigkeit des Etablissements, in dem O’Hara ihr einsames Thanksgiving verbringt, ganz und gar nichts Halbes hat.
    O’Hara ist 34 Jahre alt und bringt mit ihrem gewellten roten Haar und ihrer durchsichtig schimmernden irischen Haut, die sogar jetzt noch, Ende November, von Sommersprossen übersät ist, die einzige Farbe in den Raum. Sie sitzt an einem ockerbraunen Metalltisch vor einer Wand aus farblosen Aktenschränken, ebenfalls aus Metall. Das Licht fluoresziert, der Linoleumboden ist schmutzig und hinter ihr, vor einem Fernseher, der drei verschiedene Programme nur sehr schlecht empfängt, steht ein Tisch. Der Tisch ist mit den Überresten und Verpackungen chinesischer Mahlzeiten und mit Pizzaschachteln übersät, die in dem überquellenden Mülleimer keinen Platz mehr finden. Auch die Fensterscheiben sind schmutzig und verdüstern den ohnehin deprimierenden Ausblick auf das Bernhard-Baruch-Wohnprojekt gegenüber. Doch auch die Schmutzschicht kann die Kälte nicht abhalten.
    O’Hara lässt sich von ihrer Umgebung aber nicht im Geringsten die Laune verderben. Sie freut sich sogar über die willkommene Ruhe. Das ist, als würde man fürs Nachdenken bezahlt werden, denkt sie. Außerdem hat sie ja auch Gesellschaft. In der tiefen Kuhle, die der breite armenische Hintern ihres Partners auf dem Stuhl neben ihr hinterlassen hat, liegt ihr vierzehn Pfund schwerer Terrier Bruno. Sein friedlicher Hundeschlummer wird lediglich durch gelegentliches Schnauben und Schnorcheln sowie den ein oder anderen schelmischen Pups unterbrochen.
    Abgesehen von den Überstunden, die sie dadurch sammelt, hat O’Hara die Schicht übernommen, um sich abzulenken. Vierzehn Uhr in New York entspricht elf Uhr morgens an der Westcoast. In wenigen Stunden wird sich Axl, ihr 18-jähriger Sohn und Student im ersten Semester an der University of Washington, auf den Weg nach Bellevue machen, einem Vorort von Seattle, wo er zum ersten Mal die Eltern seiner Freundin besuchen wird. O’Hara stellt sich vor, wie Axl in seinem schäbigen Bademantel auf seinem schäbigen Stuhl sitzt und sich mit schwarzem Kaffee und Metallica auf fünf Stunden in der Hölle gefasst macht (der Vater ist Seelenklempner, die Mutter Dermatologin). Soweit sie weiß, ist die Vorliebe für Heavy Metal so ziemlich das Einzige, das ihr Sohn von ihr geerbt hat, sieht man einmal von seinen roten Haaren und dem lächerlichen Vornamen ab. Axl kommt viel mehr nach Eileen, O’Haras Mutter. Wahrscheinlich ist das gut so, denn er wuchs mehr oder weniger bei seiner Großmutter auf, was kaum verwunderlich ist, wenn man mal nachrechnet. Hat man ein Kind, überlebt man das erste Highschool-Jahr nur mit sehr viel Unterstützung, und während O’Hara den letzten Krümel ihres Sandwich verputzt, dankt sie stillschweigend für ihre Lebensumstände und die Feiertage. Die Vorstellung, dass Axl Thanksgiving an einem richtigen Esstisch in einem richtigen Haus mit einer richtigen Familie
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