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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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wieder durch den Gang kam, drückte er sein Ohr – vergeblich – an die Kapellentür und lief zur Kombüse, wo er sich ein Roggenbrot mit Käse belegte.
     
     
    Hannah lag auf dem Boden. Die Fruchtblase war geplatzt und unter ihr und zwischen ihren Beinen war alles nass.
    Das silberne Kätzchen lag noch auf dem Altar aufgebahrt – es schrumpfte allmählich zusammen – verschwand immer mehr in der konzentrierten Hitze der Weihrauchtäfelchen, die Noah zu Ehren seines wundersamen Erscheinens rundherum aufgestellt hatte.
    Die Altarlichter – zum Teil rot, zum Teil goldfarben – waren heruntergebrannt und würden bald neue Kerzen brauchen.
    Noah befand sich genau zwischen dem Altar und der Frau auf dem Boden; er saß auf der samtenen Kopfstütze eines prunkvollen Betstuhls – ritt darauf wie im Damensattel, ein Bein um das Ende der Kopfstütze geschlungen.
    Hannah schwitzte – war schweißgebadet – und klammerte sich mit nach hinten über den Kopf ausgebreiteten Armen an den Beinen eines Stuhls fest.
    »Ich brauche Hilfe«, sagte sie. »Ich brauche Hilfe. Das kann ich nicht allein.«
    »Ich werde um Hilfe rufen, sobald das Kind geboren ist«, sagte Noah.
    »Aber das Kind ist tot. Es ist tot. Und ich werde es nicht allein los…«
    »Mrs Noyes hat ein Dutzend tote Kinder auf die Welt gebracht, Tochter. Ich weiß, dass es geht. Du musst es nur tun.«
    »Aber – ich will jemand bei mir haben.«
    »Du hast jemand bei dir.«
    »Ich habe Angst…«
    »Alle Frauen haben Angst.«
    »Aber wenn es tot ist, warum kann ich dann keine Hilfe haben?«
    »Weil wir das Kind sehen müssen.«
    »Ich verstehe nicht…«
    »Es ist ganz einfach. Wir müssen das Kind erst sehen, bevor wir Hilfe zulassen können.«
    Hannah fand sich damit ab. Der alte Mann war unnachgiebig. Es würde keine Hilfe für sie geben. Auch wenn sie sterben sollte, würde es keine Hilfe geben. Sie musste das allein tun – ihm die Leiche überreichen – und, falls sie dann noch leben sollte, ihre Freiheit wiedererlangen.
    Noah sagte: »Ich werde jetzt für dich beten – und du wirst das Kind gebären.«
    Er sprach mit einer solch eisigen Ruhe – und legte in seinem Verhalten eine solch entsetzliche Grausamkeit an den Tag. Dabei wusste Hannah genau, dass er ebenso viel Angst hatte wie sie. Aber sie wusste nicht warum. Es sei denn, auf dem Kind wäre ein Zeichen, das er fürchtete – etwas, das auf seine Abstammung hinweisen würde – etwas, das beweisen würde, dass es sein Kind war.
    Sie presste.
    Noah betete.
    Da er wie sie vom gleichen inbrünstigen Verlangen beseelt war, hatte das Pressen und das Beten schließlich Erfolg.
    Und als Hannah endlich ihr Kind erblickte, schrie sie auf – aber nicht, weil es tot war. Dass es tot war, war ihr schon lange bekannt – und ihre Trauer hatte sich im Laufe der Zeit schon abgeschwächt. Doch nichts hatte sie auf den Schock vorbereitet, den sie fühlte, als sie sah, was sie diese ganzen Monate hindurch getragen hatte – nichts hatte sie auf das Entsetzen vorbereitet, das sie empfand, als sie erkannte, in was sie all ihren Ehrgeiz und ihre ganze heimliche Liebe investiert hatte.
    Noah war, natürlich, fest entschlossen, ihr allein die Schuld an der Missbildung des Kindes zuzuweisen. Als er mit dem Altarmesser die Nabelschnur durchtrennte, sagte er: »Ich habe es befürchtet. Obwohl ich bei jedem Gebet, das ich sprach, darum flehte, dass es nicht so sein sollte – dass du nicht, wie all die anderen, von diesem Fluch verseucht sein solltest…«
    Er packte das Kind mit einem Altartuch und begann seine Gliedmaßen einzuwickeln, sie vor seinen Augen zu verbergen. Eins – und dann noch eins – dann noch ein Altartuch –, aber es gelang ihm offensichtlich nicht, das Ding vollständig zu bedecken – seine grässliche Gestalt zu verstecken.
    Hannah war gerade dabei, wieder zu Kräften zu kommen, und sich in Sitzposition zu ziehen, als die Tür aufflog und Ham hereinstürzte, in der Hand ein Messer.
    »Ich habe dich schreien hören«, sagte er. »Aber bevor ich kam, musste ich zuerst eine Waffe finden…«
    Er hielt mitten im Satz inne, starrte seinen Vater an, sah nur allzu deutlich, was da in den Altartüchern halb versteckt – halb eingewickelt – in den Armen seines Vaters lag.
    Noah stand wie angewurzelt.
    Hannah zog sich mit Hilfe des Stuhls auf die Knie und dann auf die Füße. Ihre sonst makellosen Roben waren mit Staub und Blut beschmutzt – und das Kind war aus ihrem Bauch verschwunden.
    Sie ließ sich
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