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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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auf den Stuhl nieder und sagte zu Noah: »Geben Sie es mir! Ich werde es ins Leichentuch wickeln…«
    Ham war sprachlos.
    Und plötzlich fiel er hin.
    Sem hatte es schließlich doch gewagt, sein Versteck in der Speisekammer seines Vaters zu verlassen. Doch das Kind, das nicht sein Kind war, nahm er nicht wahr. Er war zu sehr damit beschäftigt, auf Ham einzuschlagen – zu sehr damit beschäftigt, Noah mitzuteilen: »Sie sind jetzt frei, Vater.«
    Noahs Augen flackerten kurz auf – suchten das, was da auf Hannahs Schoß lag.
    Er lächelte.
    Es stimmte.
    Er war frei.
    Der kleine Affe war für immer unter seinem Leichentuch verschwunden.
    »Lasst uns beten!«, sagte Noah.
    Hannah jedoch betete nicht.
    Trotz ihrer Schwäche – und trotz ihrer Wut – schaffte sie es, vom Stuhl aufzustehen, ihr Kind zu nehmen und zu gehen.
     
     
    Mrs Noyes stand noch immer allein an der Reling und blickte aufs Meer hinaus – »Meer« war das einzige Wort, das ihr als Bezeichnung einfiel. Nicht dass sie das Meer je gesehen hatte, alles, was sie vom Ozean bisher wahrgenommen hatte, war das Rauschen, das man hören konnte, wenn man eine Muschel ans Ohr hielt. Und das hier, was sie als »Meer« bezeichnete, klang anders als ein Ozean. Vielleicht war ja für dieses Wasser unter ihr noch kein Wort erfunden worden – aber vorerst genügte »Meer«.
    Endlich war die Arche in eine Flaute geraten – die einzige Bewegung kam von der gewaltigen grünen Dünung, die sie von Zeit zu Zeit wie aus dem Schlund der Erde nach oben schob.
    Mrs Noyes schaute hinunter.
    Da unter ihr befand sich die ganze Welt: Täler, Berge und Wälder, wie sie sie im Traum nicht für möglich gehalten hätte. Nicht einmal Vögel hätten die Welt so wie sie jetzt schauen können – alles war vollkommen bewegungslos, und alle Konturen traten überdeutlich und ohne Schatten zu werfen hervor: Alle Bäume – jeder einzelne – strebten durch die grünen Tiefen nach oben – und alle Berge, auch die, die am weitesten entfernt waren, waren frei von Wolken und Nebel – alles war gleich – Täler und Berge in derselben grünen Tiefe versunken – in der großen Jadeflasche mit diesem Wasser, auf dessen Boden Noah den Pfennig der Welt hatte sinken lassen und dabei Jahwe den Kopf mit dem Wunder seines »mirakulösen« Verschwindens verdreht hatte.
    Da waren die Bauernhöfe – und all die weißen Steingebäude – all die sich windenden Bänder der Kuhpfadgeographie, die den Ort, an dem sie ihr Leben verbrachte, definiert hatten. Da waren die terrassenförmig angelegten Felder und die weißen Steinmauern und die eingestürzten Zäune, über die hinweg all die ertrunkenen Rinder und all die ertrunkenen Ziegen endlich ihren Weg gefunden hatten – und die Weiden an den Berghängen, wo die Schafe das Singen erlernt hatten, und die heiligen Obstgärten, in denen die Ältesten und die Rabbiner und die auserwählten Frauen nie mehr umhergehen und ihre heiligen Träume träumen würden. Da waren die gefährlichen Untiefen, wo immer wieder jemand ertrank, diese und die harmlosen Teiche waren jetzt eins geworden – und die Brücken, die jetzt bedeutungslose Flussbetten überspannten. Da waren Straßen, die zu Städten und Dörfern und zu den Häusern führten, wo all die Leute gelebt hatten und die jetzt still und ohne eine Menschenseele vor ihr lagen – nur Fische schafften es, zum Klatsch, der sich hinter den Mauern verbarg, vorzudringen.
    Und da waren die Altäre – für immer nutzlos geworden.
    »Keine Feuer mehr«, flüsterte sie. Keine blutbesudelten Lämmer mehr.
    Es war die Welt, von der sie immer geträumt hatte.
    Und sie war Wirklichkeit.
    Als die Stille sich über alle sichtbaren Horizonte hinweg ausdehnte, verschwanden sämtliche Wolken und am Himmel blieb nur noch die Sonne übrig. Zwei Tage zuvor hatte es geschneit – und alle Vögel waren an der Reling festgefroren. Heute zogen sie in Schwindel erregenden Kreisen ihre Bahn um die Arche – sie riefen und schrien und kreischten mit unzähligen jubelnden Stimmen. Einige hatten sich auf dem Wasser niedergelassen – ließen sich in vollkommener Zufriedenheit treiben – ohne Angst, ihren Platz auf der Arche zu verlieren, da sie weder Kielwasser noch Bugwelle aufwies.
    Am Eingang zum Laderaum ertönte ein zunächst nicht identifizierbares Geräusch. Etwas – oder jemand – summte, und das Geräusch befand sich im Treppenhaus und wurde nach oben immer lauter.
    Langsam kam eine große, hagere Frau in einer Robe aus
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