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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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unwichtig. Sie kannte sie alle auch so, hatte so viel Zeit bei ihnen verbracht und sie so oft besucht – so viele Stunden, die mit Füttern und Beruhigen und Geschichtenerzählen und mit dem Anhören von Kummer und Sorgen ausgefüllt waren.
    »Luci kommt – sie bringt Licht für alle mit«, sagte sie, als sie die Gesichter, die sich um die Gitter drängten, berührte und den Atem von Affen am Handgelenk spürte. »Dann wird es eine besondere Fütterung geben; jeder von euch wird frische Erdnüsse und Heu bekommen. Und wir werden die Vorratslager öffnen und Vollkornhafer und Mais und Sonnenblumenkerne haben…«
    Als sie die letzte Ecke umrundete, verlangsamte sie ihre Schritte, bevor sie Mottyls Nest erreichte.
     
     
    »Bist du da oben?«, fragte sie und sie kletterte auf die Kisten und versuchte in das Nest hineinzuschauen.
    »Jaaaaaa … «
    »Bist du sehr müde?«
    »Jaaaaaa … «
    »Ich dachte, du hättest es vielleicht gern, wenn ich dich mit aufs Deck hinaufnehme. Wirkliche Luft atmen; eine richtige Brise fühlen. Es beruhigt sich jetzt ganz schön.«
    Mottyl kauerte – setzte sich dann in Sphinxhaltung hin – ihre blinden Augen starrten und ihre Lippen waren zurückgezogen.
    »Tut mir Leid«, sagte Mrs Noyes. »Ich weiß, du willst wahrscheinlich allein sein – aber es ist nicht gut für dich, hier unten im Finstern zu bleiben. Verstehst du?«
    »Jaaaaaa…«
    Doch Mottyl regte sich nicht.
    Mrs Noyes streckte die Hand aus und glättete mit ihrer Handfläche die Flanken des Tieres.
    Mottyl quälte sich hoch – machte einen Katzenbuckel und strapazierte all ihre schmerzenden Knochen und Muskeln.
    »Da«, sagte Mrs Noyes. »Ich mache dir eine Schlinge und binde dich mir um den Hals, so dass du dich nicht einmal festhalten musst.«
    Mottyl schwieg. Sie ließ zu, dass Mrs Noyes sie herunterhob und in die Schlinge ihres Tuches legte – und dann ruhte sie an der Brust, an der sie ihr ganzes Leben schon geruht hatte. Sie atmete so mühsam, dass Mrs Noyes sich sehr beherrschen musste, um den Gedanken an den Tod fern zu halten.
     
     
    Als sie das obere Deck erreichten, war das Meer so ruhig wie ein Gartenteich. Überdies klärte sich der Himmel auf und ließ einen Stern erkennen: der erste Stern, den sie sahen, seit sie die Erde verlassen hatten.
    »Stern, Mottyl…«
    Mrs Noyes konnte es kaum glauben.
    Mehr Wolken zogen vorbei – und dort oben, fast genau über ihren Köpfen, war der Mond.
    Ganz langsam, kaum fähig, sich zu bewegen, hob Mottyl den Kopf über die wollenen Ränder der Schlinge und beschnupperte die Luft.
    »Mond, Mottyl. Der Mond…«
    Mrs Noyes hielt sie hoch.
    »Jaaaaaa … « Mottyl konnte ihn fühlen.
    Sie standen da, solange die Dunkelheit anhielt. Bis zum Tagesanbruch.
    Der Mond und die Sterne waren in keiner Nacht auf See zu erkennen gewesen. Und während der Mond sich neigte und die Sterne im Westen erloschen, stieg der Wolfsstern an der Stelle empor, wo sich die Sonne zeigen würde.
    Der Wolfsstern war rot.
    Mrs Noyes erinnerte sich, wie aufgeregt Ham war, vor unzähligen Jahren, als er die Nacht in den Zedern über der Sonnenblumenterrasse verbracht hatte und im frühen Morgenlicht angelaufen kam – seine ganzen Papierstückchen auf den Küchentisch warf –, herumsprang und sich kaum beherrschen konnte.
    »Ich habe ihn jetzt eine Woche lang jeden Tag beobachtet, Mama; und seit einer Woche ist es jeden Tag das Gleiche! Rot! Rot! Rot! Schöner als alles, was du je gesehen hast. Und jeden Tag – jeden Morgen –, just wenn er im Osten aufleuchtet – fangen Japeths Wölfe an zu singen! Also nenne ich ihn den Wolfsstern.«
    »Ach, singen sie deswegen?«, hatte Mrs Noyes ihn geneckt, amüsiert über diese gewaltige neue Begeisterung, die die gewaltige neue Begeisterung der Vorwoche abgelöst hatte. Damals hatte Ham endlich entschieden, dass der Mond Phasen habe – und dass diese Phasen berechnet werden können. Die Woche darauf… würde die Sonne zweifellos im Süden aufgehen. Oder etwas ähnlich Hanebüchenes. Trotzdem konnte man die Begeisterung des Jungen nicht einfach ignorieren, konnte man nicht umhin, sich anstecken zu lassen: vom Wunder des Universums – vom Wunder eines jeden Dings – und vom Wunder seiner Verwunderung. Von jedem Blatt, das herunterfiel, und von jedem Ei, das er von irgendwoher anschleppte und zärtlich auf den Küchentisch legte (»Bitte – nicht anfassen! Es muss wieder dorthin zurück, wo ich es gefunden habe!«) – musste die ganze Geschichte
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