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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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erzählt, berichtet werden, wie er es gefunden hatte. Alles wurde erzählt. Die ganze Welt – erzählt – und aufgeschrieben.
    Und dort – eben jetzt –, genauso wie er es erzählt hatte – genauso wie er es niedergeschrieben hatte – neigte sich der Mond – und der Wolfsstern ging auf.
    »Wolfsstern, Mottyl. Rot…«
    Aber Mottyl schlief.
    Und dann – die Sonne.
    Die Sonne – so schien es – musste gar nicht aufgehen.
    Stattdessen wich das Wasser zurück – und aus seinen Tiefen stieg die Sonne empor – wie die Toten, die aus dem Grab zu neuem Leben erweckt werden.
    Mottyl wachte auf.
    Und Mrs Noyes sagte: »Ja. Sie ist zurückgekommen.«
    Als Luci die Lampen alle angezündet hatte, ging sie wieder die Treppe hinauf und schaute über das Deck. Dort sah sie Mrs Noyes, die kleinste Frau, der Luci je begegnet war. Sie stand an der Reling und hatte Mottyl in einer Wiege um den Hals geschlungen, und immer wieder bewegten sich ihre Lippen und deutete sie auf den Himmel.
    Sonne, Mond und Sterne, dachte Luci. Schau mal an! Es beginnt alles wieder von vorn.
    Dann kehrte sie um und ging durch den Gang zu ihrer Kajüte. Sie sperrte die Tür hinter sich zu und setzte sich auf die Koje. Von der anderen Seite drang Emmas Schnarchen zu ihr.
    Luci sah sich im Raum um – lustlos zuerst, dann mit zärtlich schimmerndem Blick. Hier hatte sie mit Ham geschlafen. Einem Mann. Einem menschlichen Wesen. Dort an der Wand hingen seine Tuniken – zerrissen und abgetragen, richtig einsam sahen sie aus. Kleidungsstücke hatten immer etwas Einsames, wenn der Mensch, dem sie gehörten, sie nicht trug, dachte Luci. Nur im Himmel nicht, erinnerte sie sich. Im Himmel waren sämtliche Kleidungsstücke immer in der Reinigung. Beim Ausbessern. Sie lächelte. Oder aber die Person, der sie gehörten, war in der Reinigung, um sich zu bessern…
    Ham war ein ganz netter Junge. Unreif – begeisterungsfähig – brillant. Mozart hätte ihn gemocht, dachte sie; wegen der Spiele, die sie hätten spielen können. Shelley hätte ihn wegen seiner Taschen voller Bücher gemocht. Whitman hätte ihn wegen der Spaziergänge gemocht, die sie zusammen hätten unternehmen können. Einstein hätte ihn heiß und innig geliebt – was für ein Schüler! Seine Antworten hießen immer nur ja und nein – und bei seinen Fragen fasste er sich nicht weniger kurz: Warum?, lauteten sie – und wozu?
    Das war alles.
    Hier ist er mein »Ehemann« gewesen. Die Spiele; die Taschen voller Bücher; die Spaziergänge; die Antworten und die Fragen gehörten eine Zeit lang… mir.
    Und jetzt?
    Wozu – die Menschheit?
    Und warum?
    Ich habe ein Gerücht gehört – du auch? – eine andere Welt…
    Wo?, fragte sie sich. Wann? Wann? Wann?
     
     
    Ham hörte Geräusche in der Kapelle.
    Sein Vater und Schwester Hannah waren schon seit vielen Stunden da drin – und es fiel ihm ein, dass Leute essen müssen. Sie müssen Wasser trinken – die Latrine aufsuchen – andere Luft atmen als die, die sie schon seit sechs Stunden und länger geatmet haben.
    Aber er musste vorsichtig sein. Durfte keine Fehler machen – keine voreilig geöffneten Türen, die den Gefangenen die Chance gaben zu entkommen. Wenn sie die Latrine benutzen wollten, würden sie es unter seiner Aufsicht tun müssen. Wenn sie Nahrung wollten, würde er ihnen in Maßen zu essen geben. Wenn sie frische Luft wollten, würde er sich etwas überlegen müssen…
    »Oh!«, sagte Hannah – ihre Stimme war lauter geworden. Vielleicht wegen der Schmerzen.
    Und wenn sie gerade ihr Kind bekommt?, dachte Ham. Man durfte nicht riskieren, dass es tot zur Welt kam, nur weil man Hannah ohne weibliche Hilfe allein ließ.
    Er hatte den Sessel seines Vaters mit den Schaffellkissen und den Wolldecken bereits verlassen und lief durch den Gang, vorbei an der Kombüse, an der Kabine und am Arbeitszimmer seines Vaters.
    Als er vor der Tür zur Kapelle stand, hörte er Hannah ganz deutlich stöhnen.
    Er klopfte an.
    Sofort wurde es still.
    »Geht es euch gut?«, fragte er.
    »Ja«, sagte sein Vater. »Ja.«
    Dann wurde geflüstert – geflüstert und wieder geflüstert, bis er endlich Hannahs Stimme hörte und auch sie sagte: »Ja.«
    »Müsst ihr zu den Latrinen?«
    »Noch nicht«, sagte Noah. »Nein.«
    »Wollt ihr etwas essen?«
    »Nein.«
    »Wasser?«
    »Nein.«
    »Also nichts?«
    »Nein. Nein. Nichts.«
    Alle Antworten kamen von Noah. Schwester Hannah sagte kein Wort.
    Ham ging weiter und suchte selbst die Latrine auf. Als er
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