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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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– die sie inzwischen vergessen hatten. Einige der Lämmer hatten die Welt noch nie gesehen, denn sie waren an Bord der Arche, im abgedunkelten Stall, geboren.
    Das alles war wie eine Offenbarung für sie – die Luft und das Wasser – das große breite Deck –, und die Schafe und Lämmer taten nichts anderes als schauen.
    Mrs Noyes hob das allerkleinste, allerjüngste Lamm auf und sie sprach zu seinen Eltern und zu allen Schafen, deren Anzahl an Bord der Arche von sieben auf zwanzig gestiegen war – obwohl so viele Lämmer als Opfer und Futter für den Löwen aus dem Schacht geholt worden waren.
    »Es ist höchste Zeit, dass dieser Kleine das Singen erlernt«, sagte Mrs Noyes. »Und welches Lied würde sich besser für den Anfang eignen als Lamm Gottes} …«
    Kaum hatte sie sie ausgesprochen, bereute Mrs Noyes ihre Worte auch schon. Lamm Gottes hatte eine so furchtbare Bedeutung erhalten, seitdem sie es vor Jahwes Ankunft einstudiert hatten. »Nein«, sagte sie. »Wir singen nicht Lamm Gottes, Wir singen ein anderes, fröhlicheres Lied. Ich weiß! Wir singen Lang, lang ists her. Das haben wir früher alle zusammen gesungen…« Und sie stimmte das Lied selber an – und sah dabei das Lamm in ihren Armen an.
    Sag mir das Wort, dem so gern ich gelauscht, lang, lang ists her, lang, lang ist’s her. Sing mir das Lied, das …
     
     
    Sie hielt inne. »Das ist komisch«, sagte sie. »Ich habe den Text vergessen!«
    »Määääh…«, machte eins der Schafe zu ihren Füßen.
    »Wie?«, fragte Mrs Noyes.
    »Määääh…«, sagte das Schaf.
    Mrs Noyes lachte. »Was für ein eigenartiger Laut«, sagte sie, »Määääh.«
    »Määääh…«, machte das Schaf wieder.
    »Ich weiß«, sagte Mrs Noyes. »Viel, viel besser! Wir singen Wiegende Wellen auf wogender See. Einverstanden?« Und sie stimmte an:
     
    Wiegende Wellen auf wogender See,
    wallende Fluten der Gezeiten …
     
    »Was ist? Singt mit!«
     
    schaukelnd hernieder und wieder zur Höh,
    trägst du mein Boot im frohen Spiel …
     
    »Wollt ihr nicht mit mir singen?«, fragte sie.
    »Määääh…«
    Mrs Noyes wandte sich dem Widder zu.
    »Du kennst doch dieses Lied. Früher haben wir es im Duett gesungen. Los…«
     
    Ein frischer Wind weht uns geschwind
    in blaue, unbegrenzte Weiten,
    weht immer, immer zu, ihr Winde, mein Kanu…
     
    »Määääh!«
    »Määääh!«
    »Määääh l«
    »Machten alle. Jedes einzelne Schaf – der Widder, die Mutterschafe, die Lämmer…«
    »Määääh!«
    Und kein Einziges von ihnen sang.
    Mrs Noyes nahm das Lamm von ihrem Arm und setzte es aufs Deck. Sie kniete sich hin.
    »Bitte singt!«, sagte sie. »Bitte.«
    Sie kniete direkt vor dem allerältesten Schaf, es hieß Daisy. Zu Hause auf den Weiden, wo die Lämmer geboren wurden, hatte Daisy ihr immer beim Gesangsunterricht geholfen. In Mrs Noyes’ ganzem Repertoire gab es kein einziges Lied, das Daisy nicht konnte.
    »Also, Daisy. Du und ich zusammen. Los geht’s:
    Gischtende Brandung am tückischen Riff,
    »Määääh.«
    strudelnde Wasser mich umlauern…
    »Määääh.«
     
    Allen Gefahren trotzet mein Schiff…«
     
    Mrs Noyes hob das Lamm auf und drückte es an ihre Brust. Sie weinte.
    »Bitte«, sagte sie. »Hei, wie wir fliegen… durch die… Flut.«
    Stille.
    Kein Wort.
    Mrs Noyes setzte sich aufs Deck. Tränen strömten über ihre Wangen.
    »Ach«, sagte sie. »Ach – nein«, sagte sie. »Ach bitte – bitte singt!…«
    »Määääh.«
    Mrs Noyes schaute sie nur an – und sie schniefte, benutzte ihre Schürze als Taschentuch. Das Lamm wollte von ihrem Schoß – und sie ließ es gehen. Es gesellte sich wieder zu seinesgleichen.
    Mrs Noyes saß da und schaute sie an – alle Schafe und Lämmer – wie sie sich aneinander kauerten – und Mrs Noyes ausschlössen. Ihr Mund stand weit offen. Keine Lieder mehr, kein Gesang…
    »Määääh.«
    Nur määäh.
    Nie wieder würden die Schafe singen.
     
     
    Ham brauchte eine Weile, um sich von dem Schlag, den Sem ihm verpasst hatte, zu erholen – nicht nur, weil Sem so kräftig war, sondern auch wegen des dazu benutzten Geräts, des Tellers, von dem Sem gerade gegessen hatte.
    Technisch gesehen hätte man die Situation zwischen den beiden Lagern als ein Patt bezeichnen können. Da Japeth noch im Arsenal eingesperrt war und nur Ham wusste, wie man ihn befreien konnte (eine geniale Serie von Knoten), war niemand da, der zu kämpfen bereit war. Und ohne Kampf keinen Sieg.
    Niederlagen gab es jedoch auf beiden
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