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Die letzte Aussage

Die letzte Aussage

Titel: Die letzte Aussage
Autoren: Keren David
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geraten.«
    Dann kommt die Stelle, die Gran mit dem Kuli angekreuzt hat. »Wir sind dem Jungen, der gestern über das, was damals passiert ist, die Wahrheit gesagt hat, zu großem Dank verpflichtet. Ohne ihn wäre unser armer toter Sohn heute als Krimineller gebrandmarkt.«
    Ich schiebe die Zeitung weg. Gran gibt mir die Tasse mit dem heißen Tee. Ich rühre um, sehe zu, wie sich Blasen bilden, als der Zucker sich auflöst. Der Tee wirbelt im Kreis in der Tasse herum. »Es stimmt nicht, Gran. Was dain der Zeitung steht«, sage ich. »Er hat ein Messer gehabt. Rio. Er war nicht nur ein unschuldiges Opfer.«
    Sie setzt sich mir gegenüber. »Ich will mir gar nicht näher vorstellen, was diese arme Familie durchmachen muss. Jeden Tag danke ich Gott dafür, dass du noch lebst. Wir sind alle Sünder, Ty, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen sollten, stets das Richtige zu tun. Ich glaube, dass jetzt alles in Ordnung ist, Ty. Und ich bin sicher, dass alle erkannt haben, dass du ein guter Junge bist.«
    Dann fängt Alyssa an zu schreien, und Gran nimmt sie schnell hoch, damit meine Mum nicht aufwacht. Deshalb muss ich mit ihr nicht darüber reden, was heute passieren wird. Ich nehme den Tee mit in mein Zimmer, wo ich mir dort, wo der Fernseher gestanden hat, einen Schreibtisch gebaut und darüber einen großen Arbeitsplan für meine Schulfächer an die Wand gepinnt habe.
    Ich habe mich in einen Streber verwandelt. Ich habe herausgefunden, dass man sich im Schulstoff ebenso verlieren kann wie bei der Playstation oder einer Xbox. Es ist natürlich nicht so aufregend und macht nicht so viel Spaß, klar, aber es verschafft einem das gleiche beruhigende Gefühl, sich vom Rest der Welt und – was sogar noch besser ist – dem Zeug, das sich in deinem eigenen Kopf abspielt, abzuschotten. Niemand kann einen dafür kritisieren, die Lehrer halten mich für einen erstaunlich begabten Schüler, Mum und Gran sind vor Begeisterung ganz baff.
    Es ist eine hervorragende Methode, dafür zu sorgen,dass sich niemand für dich interessiert, und das ist mir momentan mehr als recht. Heute ganz besonders.
    Aber gerade jetzt fällt es mir schwer, mich in meine Englischhausaufgaben zu stürzen. (Wir lesen momentan ein Theaterstück namens An Inspector Calls , was – genau betrachtet – ziemlich ironisch ist.) Ich starre ins Leere und kaue an den Fingernägeln und überlege, was wohl am Ende dieses Tages passiert sein wird. Frage mich, ob es mir dann besser oder schlechter geht.
    Dann höre ich, wie meine Mum mich ruft. Ich gehe ins Wohnzimmer und sehe, dass mein Dad schon da ist. Er sitzt auf dem Sofa, hält Alyssa in den Armen und prustet ihr knatternd auf die Wangen. Er sieht dabei ziemlich lächerlich aus.
    »Hallo, Ty«, sagt er. »Wie geht’s?«
    »Hast du schon die Zeitung gesehen, Schatz?«, fragt meine Mum. Ich bin froh, dass sie an einem Stück Toast knabbert. Sie ist wieder in Ordnung, meine Mum, vollständig genesen, aber immer noch blass und ständig müde, und meistens sieht sie nicht sehr attraktiv oder wie ein Promi aus, sondern einfach nur sehr dünn. Wie es immer in diesen Magazinen heißt: zu mager. Manchmal kaufe ich ihr Schokolade, auf dem Heimweg von der Schule, aber meistens hat sie keine Lust darauf.
    Ich mache mir sehr viele Sorgen um sie. Dabei hilft es mir nicht, dass sie sich auch Sorgen um mich macht.
    »Ja, schon gesehen«, antworte ich und wechsele sofort das Thema: »Kann sein, dass ich noch zur Bibliothek gehe. Hier kann ich nicht richtig arbeiten. Wenn ich eineneigenen Laptop hätte, ginge es natürlich besser.« Ich sehe meinen Dad vielsagend an und hoffe, dass er den Wink mit dem Zaunpfahl versteht, aber er schaut in Alyssas Augen und lässt sie an seinem Finger lutschen, was ein bisschen irritierend ist.
    »Dazu hast du vielleicht keine Zeit«, sagt meine Mum und lässt ihren Toast halb gegessen auf den Teller fallen.
    »Wir wär’s mit einem Joghurt, Nicki?«, fragt Gran.
    Mum schüttelt den Kopf. »Meinst du wirklich, dass der Anwalt nicht dabei sein sollte?«, fragt sie meinen Dad.
    »Er meinte nein«, antwortet er und hebt den Blick. »Er hat gesagt, dass es bloß Routine ist. So wie früher schon mal, als sie dich festgenommen haben, Ty, nur dass wir diesmal erfahren werden, was sie dir eigentlich anlasten. Hoffentlich überhaupt nichts. Na komm. Bringen wir’s hinter uns.«
    Es geht los. Mein großer Auftritt bei den Bullen. Heute wollen sie mir mitteilen, was sie mir alles vorzuwerfen
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