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Die letzte Aussage

Die letzte Aussage

Titel: Die letzte Aussage
Autoren: Keren David
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gleich hingehen und sie uns ansehen. Julie ist bei ihr. Alles in Ordnung bei dir? Dann gehen wir.«
    Patrick führt mich einige Treppen hinauf in eine andere Station – eine Station voller Neugeborener in kleinen durchsichtigen Bettchen. Sie wirken viel zu klein, um da ganz allein zu liegen, in einer Welt ohne ihre Familien. Eine Schwester wuselt umher, aber das ist nicht dasselbe. Ich muss unwillkürlich an Arron denken, der allein in seiner Zelle eingesperrt ist. Ich will nicht an Arron denken. Ich will auch nicht an Gefängniszellen denken.
    Nur bei einem Baby, ganz am Ende der Reihe, sitzt eine Mama dabei. Die Mama … uäh … sie gibt ihm gerade die Brust. Widerlich. Ich hoffe nur, dass meine Mum das nicht vorhat. Ich hoffe, dass meine Mum … oh Gott … ich kann nicht mal an sie denken.
    Patrick führt mich um eine Ecke in einen Raum, in dem nur vier Babys liegen. »Da ist sie«, sagt er. Und dort ist auch Gran. Ich eile auf sie zu, um sie zu umarmen, dann bleibe ich stehen.
    Sie kann mich nicht umarmen. Sie hält ein winziges Bündel im Arm, das in eine weiße Decke gewickelt ist, und ich sehe ein kleines rosiges Gesicht und einen schwarzen Haarschopf. Ich mache einen Schritt zurück und komme mir ein bisschen dumm vor. Warum können wir es nicht wie die anderen Babys auch in seinem Bettchen lassen?
    »Herzlichen Glückwunsch, Julie«, sagt Patrick. »Das ruft ein paar Erinnerungen wach.« Ich denke daran, dass meine Gran damals gelogen und mich ihnen weggenommen hat, und es kommt mir vor, als knisterte die Luft vor Elektrizität, die sich jeden Augenblick entladen kann. Aber Gran lächelt nur angespannt und sagt: »Eins muss ich Nicki lassen: Sie schenkt mir wunderschöne Enkelkinder.«
    Dann zeigt sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie drückt mir das Bündel in die Arme und lässt sich auf einen Stuhl fallen, wobei sie beinahe laut aufheult, so sehr muss sie weinen. Ihr Körper wird von heftigen Schluchzern durchgeschüttelt. Ich bin wie erstarrt. Ich glaube, ich habe Gran noch nie weinen sehen.
    Patrick zieht ein sauberes weißes Taschentuch hervor und reicht es ihr. Dann legt er den Arm um sie. »Ist ja gut«, sagt er. »Sie kommt schon wieder auf die Beine. Deine Nicki ist eine echte Kämpferin, Julie, das wird schon wieder. Beruhige dich, wir wollen doch die anderen Babys nicht alle wecken.«
    »Ich dachte, sie stirbt«, sagt Gran. In mir drin ist es ganz kalt. Aber dann sagt sie: »Mir ist nichts anderes übrig geblieben«, und Patrick sagt: »Das haben wir doch gewusst,und wir haben dir keine Schuld daran gegeben«, und mir wird klar, dass sie von der Vergangenheit reden.
    Ich werfe einen Blick auf das Bündel in meinen Armen. Die Augen des Babys sind offen. Es sind Alistairs Augen, die mich da ansehen. Alistairs borstige Haare. Alistairs Gesicht sieht mich da aus der weißen Decke an, und ich glaube nicht, dass ich mit diesem Anblick tagtäglich leben kann.
    Ich sehe Patrick Hilfe suchend an. Im Stillen bitte ich ihn darum, dass er mir das Bündel abnimmt, dass er mich abhauen lässt … davonlaufen … damit ich dieses Baby nie wieder sehen muss. Er fängt meinen Blick auf und runzelt die Stirn. Dann sagt er – und das ist ein Befehl –: »Streck die Zunge raus.«
    »W-was?«
    »Streck die Zunge raus. Lass sie draußen und warte ein paar Sekunden.«
    Ich strecke die Zunge raus. Alistairs Augen bohren sich in mich. Grans Schluchzen wird leiser; sie sieht mich erstaunt an.
    Dann fängt der Mund des Babys an zu zucken. Eine winzige Falte wird auf seiner Stirn sichtbar. Und auf einmal schiebt sich ihre kleine rosa Zunge zwischen den Lippen heraus. Unglaublich! Nicht zu fassen! Sie ist noch so klein, eigentlich nicht mehr als ein kleiner Knubbel, und kann überhaupt noch nichts machen, aber sie kann mich ansehen und mich nachmachen! Meine Schwester ist echt schlau. Ich blinzele und sehe, dass sie eigentlich überhaupt nicht wie Alistair aussieht, sondern Mumsblaugraue Augen hat und Grans Grübchen in den Wangen.
    »Hat sie schon einen Namen?«, erkundigt sich Patrick, und Gran schnieft bebend und antwortet: »Alyssa. A-L-Y-S-S-A. Frag mich nicht. Es ist nicht mal der Name einer Heiligen. Aber sie will sie mit zweitem Namen Maria nennen, nach meiner Mutter, was ein gewisser Trost ist, denke ich. Gib sie mir jetzt wieder, Ty. Wie geht’s dir denn, mein Großer? Hast du schon was gegessen?«
    »Nö«, antworte ich. Eigentlich will ich Alyssa noch nicht weggeben. Ich rieche an ihren dunklen
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