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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes
Autoren: Jaime Manrique
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damit einen tödlichen Schlag. Hätte Cervantes keine Fortsetzung geschrieben, so denke ich, hätte Luis’ Roman als Kuriosum überdauern können. Durch den schlanken Stil konnte die Handlung rascher voranschreiten als bei Cervantes; bei der Schilderung Don Quijotes und Sanchos entlarvte sich Luis als Autor, allerdings, ihm mangelte es einfach an Mitgefühl für andere. Schlimmer noch, er hatte nicht damit gerechnet – ebenso wenig wie ich oder sonst jemand –, dass der verkrüppelte Soldat von Lepanto in seinem zweiten Teil die von Luis geschilderten Abenteuer und Figuren aufgreifen würde.
    Nachdem Luis Cervantes’ Teil II gelesen hatte, bekam er einen Schlaganfall. Ich fand ihn bewusstlos in der Bibliothek, zusammengesackt in seinem Sessel, ein Exemplar von Cervantes’ Roman zu seinen Füßen. Der Wundarzt wurde gerufen. Obwohl Luis damals fast nur noch aus Haut und Knochen bestand, wurde er zur Ader gelassen, bis seine Haut die Farbe von Wachs annahm. Doch sein Lebenswille war stärker, nach einigen Wochen kam er zu Kräften und konnte wieder sprechen. Als erstes flüsterte er mir zu: »Pascual, den ersten Teil hat er ohne meine Hilfe geschrieben – obwohl er die Idee von mir gestohlen hatte –, aber seinen zweiten Teil hätte er ohne mich nicht schreiben können. Und er hatte die Frechheit, meine Figur zu stehlen, Alvaro Tartuffe, und meinen Roman zu verspotten! Meine Gestalten halfen ihm erst, seine eigenen mittelmäßigen Figuren zu schaffen.«
    Er sah derart jämmerlich aus, derart ausgezehrt, wie ein uraltes Kind, dass ich mir wünschte, er wäre gestorben. Empfand ich eher Mitleid oder Abscheu?
    »Don Luis«, sagte ich, »Ihr solltet nicht so viel sprechen. Der Arzt hat gesagt, Ihr sollt Euch schonen und nahrhaftes Essen zu Euch nehmen. Wir können uns über alles unterhalten, wenn Ihr wieder bei Kräften seid.«
    Das Lächeln, zu dem er sein Gesicht verziehen wollte, wirkte wie eine Grimasse. Er packte mich am Revers meiner Weste. »Ich habe ihn zu einem großen Schriftsteller gemacht, Pascual«, flüsterte er mir ins Ohr. »Ich habe ihn gezwungen, Teil II zu schreiben. Ohne meinen Roman wäre Don Quijote Teil I ein Kuriosum und sonst nichts.«
    Ich dachte: Du kannst es nicht ertragen, dir einzugestehen, dass du übertrumpft worden bist, dass Cervantes den Dieb bestohlen hat. Indem Cervantes auf Avellanedas Quijote verwies und dessen Figuren in seine eigene Handlung einbaute, hatte er seinen Quijote mit Luis’ verknüpft. Jetzt waren die beiden Figuren (der echte und der gefälschte) siamesische Zwillinge. Cervantes hatte einen Roman geschrieben, der die beiden bis in alle Ewigkeiten verband.
    Bald wurde der Apokryphe Don Quijote (wie er nach einer Weile allgemein genannt wurde) geschmäht und dann vergessen. Luis verbrachte seine Tage im Gebet oder schweigend. Er war ein lebendes Gespenst. Nachts wandelte er durch die Korridore des großen Hauses, barfuß und im Nachtgewand, eine dünne Kerze in der Hand, und betete. Eines Nachts hörte ich ihn flehen: »Herr, hilf mir, ihm zu vergeben. Bitte hilf mir, ihm zu vergeben, bevor ich sterbe.«
    Ich war getreu bei ihm geblieben, weil ich wusste, dass sein Tod näher rückte. Ich ging davon aus, dass ich mein Erbe erhalten würde und für keinen Menschen mehr arbeiten müsste, ob Edelmann oder nicht. Schließlich kam ich auf die Idee, Luis’ Archiv nach seinem Testament zu durchsuchen. Ich wollte unbedingt erfahren, wie reich ich nach seinem Tod sein würde. Er hatte mich angelogen, um meine Ergebenheit sicherzustellen: Er hinterließ sein gesamtes Vermögen seiner alma mater , die auf Dauer einen Lehrstuhl in seinem Namen einrichten sollte.
    Aber ich hatte nicht vor, meine Nächte im Spielhaus und die Gesellschaft der Nachkommen spanischer Granden aufzugeben, die ich mit dem vertraulichen tú ansprach, als wäre ich ihnen ebenbürtig. In weniger als einem Jahr hatte ich die Truhen in Luis’ Gemächern so gut wie geleert. Dann machte ich mich daran, alle Wertgegenstände aus dem prachtvollen Haus zu schaffen: die Gemälde italienischer und flämischer Meister, die riesigen mittelalterlichen Wandteppiche, das Silber, die Goldteller, die Möbel, die Leinenwäsche, die Teppiche, die alten Schilde, Lanzen und Schwerter, die an den Wänden hingen. Ich verkaufte alles, um meine Nächte der Glückseligkeit zu finanzieren. Da war ich fünfzig Jahre alt und lebte wie ein reicher Mann.
    Der Hass, den ich die ganzen Jahre meiner Knechtschaft für Luis empfunden
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