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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Autoren: Polina Daschkowa
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untersetzte Gestalt sprang von Baumstamm zu Baumstamm. Er ging durch die Taiga, als sei unter seinen Füßen glatter, sauberer
     Asphalt. Lena dagegen hielt sich kaum noch auf den Beinen. Einmal strauchelte sie und trat daneben, und sofort versanken ihre
     Beine tief im Schnee, unter den Sohlen knirschte es verräterisch. Wassja sprang sofort zu ihr, zog sie heraus, stellte sie
     auf einen breiten Birkenstamm und sagte finster:
    »Kannst du nicht besser aufpassen?«
    »Danke. Entschuldige bitte«, flüsterte Lena.
    Den ganzen langen, qualvollen Weg über sprachen sie kein einziges Wort mehr.

Kapitel 39
    »Regina, wir müssen miteinander reden«, flüsterte Wenja Wolkow. Er saß im Probensaal und schaute zu, wie der x-te Knabe über
     die Bühne hüpfte. Das hübsche karamellfarbene Gesicht des Jungen war vor Anstrengung rot angelaufen, die schwache Falsettstimme
     trug den üblichen Schwachsinn vor.
    Regina war nicht in der Nähe. Sie war irgendwohin verschwunden, hatte nicht auf der Datscha übernachtet und war auch nicht
     in der Moskauer Wohnung gewesen. Um so besser, dachte er, endlich hat sie begriffen.
    »Wir müssen miteinander reden«, flüsterte er noch einmal, bemüht, sich an diesen banalen Satz aus unzähligen Filmen und Büchern
     zu gewöhnen.
    Er hatte ihn gestern abend sagen wollen, aber Regina war nicht gekommen, und er hatte erleichtert aufgeatmet. Wahrscheinlich
     war es auch besser, noch etwas zu warten. Dieses letzte Projekt mußte noch in Gang gesetzt werden, vorher durfte er nicht
     gehen.
    Erst vor einem Monat war ihm die Idee gekommen: ein romantisches Duo, ein Mädchen und ein Junge. Nicht älter als achtzehn
     durften sie sein, und aussehen mußten sie noch wie halbe Kinder. Aber nicht wie die von heute, die auf Rollschuhen umherflitzten,
     mit bunten Feudeln auf ihren unvernünftigen Köpfen. Rührende, verliebte Kinder mußten es sein, zeitlos, ohne jeden Anflug
     von Vulgarität und Zynismus, unverdorben vom Unterweltmilieu. Romeo und Julia vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihm schwebte
     sogar eine Rockoper in der Art der »Westside Story« vor. Am wichtigsten aber war es, die richtigen Gesichter ausfindig zu
     machen.
    Das Mädchen hatte er schon gefunden. In einer Schauspielschule hatte er eine gertenschlanke Anfängerin ausgesucht. Sie hatte
     üppiges, taillenlanges aschblondes Haar und riesige schwarze Augen in einem zarten, fast durchsichtigen Gesicht. Ohne Make-up
     sah sie aus wie fünfzehn. Sie hieß Juliana, konnte sich sehr gut bewegen, und auch die Stimme war gar nicht übel.
    Die Suche nach dem Jungen war schwieriger. Heute wollte er endlich eine Entscheidung treffen. Dieser hier, der karamelhäutige,
     war an diesem Tag schon Nummer Sieben.
    Als der nächste in den Saal kam, seufzte Wenja erleichtert auf. Dunkelbraune Locken, eine runde Brille, große tiefblaue Augen.
     Der Junge hatte die Bühne noch nicht betreten und den Mund noch nicht aufgemacht, da wußte Wenja schon: Der war’s, der Idealtyp
     war gefunden.
    »Wo ist Juliana?« Er blickte sich um.
    »Hier bin ich, Wenjamin Borissowitsch!« erklang eine zarte Stimme hinter ihm.
    Die ganze Zeit hatte das Mädchen im Saal gesessen. Er hatte sie völlig vergessen.
    »Rasch, auf die Bühne. Stellt euch nebeneinander.«
    Da war es, sein letztes Projekt. Romeo und Julia. Ein halbes Jahr würde es dauern, sie aufzubauen. Dann wäre erschon nicht mehr hier. Wenn Regina seine Hilfe brauchte, würde er kommen. Die ersten beiden Videoclips wollte er noch selber
     machen und das Repertoire für das erste halbe Jahr zusammenstellen. Auch den Komponisten und den Librettisten für die Rockoper
     würde er wohl noch auswählen.
    »Regina, wir müssen miteinander reden«, flüsterte er zum dritten Mal.
    »Haben Sie etwas gesagt, Wenjamin Borissowitsch?« fragte das Mädchen Juliana von der Bühne.
    »Nein. Nichts. Kennt ihr beide irgendeine schöne Romanze?«
    »Ich glaube, sie nehmen dich«, hörte er das Mädchen laut flüstern. Eine Minute später sangen die beiden im Duett:
    »Frühling, geh nicht fort von mir,
    Hoffnung, laß mich nicht im Stich.«
    Der Junge hatte eine recht gute Stimme, tief und voll. Auch sein musikalisches Gehör war in Ordnung. Wenja schloß die Augen
     und lehnte sich müde im Sessel zurück. Der Text und die Melodie weckten kein Fieber, kein Zittern mehr bei ihm. Es war einfach
     angenehm, diese schöne Romanze zu hören.
    Er beschloß, den schwierigen, banalen Satz heute abend nicht zu Regina zu
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