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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Autoren: Polina Daschkowa
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sagen. Es war besser, noch zu warten. Er wußte,
     Regina würde ihm ruhig und aufmerksam zuhören und keine Szene machen. Sie würde seine Entscheidung verständnisvoll, ja sogar
     mitfühlend aufnehmen.
    »Nun gut«, würde sie sagen, »wenn du es so willst, wenn es dir dabei besser geht, bin ich einverstanden.«
    Und dann würde sie Lena umbringen.
    Ja, dachte er, sie wird Mittel und Wege finden. Ein drittes Mal mißlingt es ihr nicht. Vielleicht geschieht irgend etwas Unerwartetes,
     zum Beispiel eine Explosion an Bord des Flugzeuges Tjumen – Moskau, das Flugzeug stürzt ab, und niemand ist schuld. Nein,
     Lena muß erst herkommen und mit ihrem Mann sprechen.
    Daran, daß Lena auf seinen Vorschlag eingehen würde, zweifelte Wenja keine Sekunde. Sie war sein Glück, seine Jugend. Sie
     gehörte ihm, nur ihm allein.
    Dieser ganze lange, schreckliche Abschnitt seines Lebens, seine sogenannte Jugend, verdichtete sich in seiner Erinnerung auf
     die wenigen glücklichen Tage im Juni 1982. Nur diese eine lebendige, klare Liebe zählte, mochte sie auch unerwidert geblieben
     sein. Jetzt würde sie zu ihm zurückkehren. Sie war ja schon zurückgekehrt. Lena Poljanskaja liebte ihn. Sie würden zusammenbleiben
     und sich nie wieder trennen. Er war gesund. Er hatte niemanden getötet.
    »Dauert an, ihr goldnen Tage«, sangen der Junge und das Mädchen auf der Bühne selbstvergessen.
    ***
    »Wir sind da«, sagte der Killer heiser und fiel in den Schnee.
    Lena blickte sich um. Eine Klause war nirgends zu sehen, nur ein niedriger, verschneiter Hügel. Wassja lag mit geschlossenen
     Augen im Schnee. Die Morgensonne stach ihm ins Gesicht. Lena setzte sich auf einen umgestürzten Stamm, ihr war schwindlig.
    Das letzte Stück Weg war sie beinahe leicht gegangen, als wären neue Kräfte in ihr erwacht. Ihr schien, als sei sie gar nicht
     müde, als könne sie immer weiter und weiter gehen. Erst jetzt, als sie haltgemacht hatte, merkte sie, daß sie völlig erschöpft
     war.
    Wassja blieb nur etwa zehn Minuten im Schnee liegen. Diese kurze Zeit genügte ihm, um sich vollkommen zu entspannen, jeder
     Körperzelle Erholung zu geben. Nicht einmal die Schmerzen in der verletzten Schulter störten ihn. Lena schloß ebenfalls die
     Augen, lehnte sich an den Stamm und fiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf, der einer Ohnmacht ähnelte.
    Er weckte sie nicht. Er wählte einen geeigneten Birkenast aus und ging daran, den Zugang zur Erdhütte freizuschaufeln. In
     weniger als einer halben Stunde hatte er es geschafft. Sein rechter Arm wollte ihm nicht richtig gehorchen, aber dafür war
     der linke völlig in Ordnung.
    Nachdem der Eingang freigelegt war, sammelte Wassja Tannenzweige und polsterte den Boden der Hütte mit mehreren Schichten
     von Reisern aus. Erst dann weckte er Lena.
    Sie öffnete die Augen und wußte im ersten Moment nicht, wo sie sich befand. Nach dem kurzen Schlaf ging es ihr etwas besser,
     aber ihr Körper schmerzte und verlangte nach mehr Erholung.
    »Solange kein Hubschrauber in Sicht ist«, sagte der Killer, »mußt du dir ansehen, was mit meiner Schulter ist. Wir setzen
     uns an den Eingang der Hütte, und sobald wir den Hubschrauber hören, verstecken wir uns.«
    »Gut«, Lena nickte und dachte: Und wenn ein anderer Hubschrauber kommt? Nicht der der Banditen?
    Aber laut sagte sie nichts.
    Aus den unzähligen Taschen seiner Lederjacke holte Wassja eine kleine, flache Feldflasche, ein Finnenmesser in einer dicken
     Lederscheide und eine Tafel Schokolade. Sorgfältig entfernte er die Folie und brach vier Stücke ab. Zwei reichte er Lena,
     zwei steckte er sich selbst in den Mund.
    »Iß langsam. Das ist alles, was wir für die nächsten vierundzwanzig Stunden haben«, sagte er. »Später werde ich versuchen,
     Wasser zu kochen.«
    Unter seiner Jacke trug der Killer einen dicken Pullover, darüber einen Waffengurt, in dem unter der linken Achsel eine kleine
     Maschinenpistole steckte. Unter dem Pullover trug er ein blauweiß gestreiftes Matrosenhemd. Das blutverschmierte Loch an der
     rechten Schulter sah auf diesem Hemd besonders gräßlich aus. Lena wunderte sich, wieleicht er den verletzten Arm bewegte, als er Pullover und Hemd über den Kopf zog.
    »Ist dir nicht kalt?« fragte sie, als er sich bis zum Gürtel ausgezogen hatte.
    »Guck dir die Schulter an«, war seine Antwort.
    »Ich bin kein Arzt«, sagte Lena warnend, während sie die blutende Wunde inspizierte.
    »Ich weiß. Aber einen Arzt gibt es hier nicht.
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