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Die Legende der Wächter 1: Die Entführung

Die Legende der Wächter 1: Die Entführung

Titel: Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
Autoren: Kathryn Lasky
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gewesen. Konnte er das vielleicht wiederholen? Er hob die Flügel und flatterte damit. Nichts. In der frischen Abendbrise wurden seine Flügel nur kalt und fühlten sich nackt an.
    Abermals spähte er am Baumstamm empor. Und wenn er nun kletterte, Krallen und Schnabel zu Hilfe nahm? Jedenfalls musste er etwas unternehmen, sonst verspeiste ihn irgendein Räube r – eine Ratte oder ein Waschbär. Beim Gedanken an Waschbären wurde es Soren ganz mulmig. Er hatte schon welche vom Nest aus beobachtet. Sie hatten dichtes Fell, trugen schwarze Masken und besaßen ein Furcht einflößendes Gebiss.
    Er musste die Ohren spitzen und lauschen. Er musste den Kopf hin und her drehen, wie es ihm seine Eltern beigebracht hatten.
    Seine Eltern hatten so gute Ohren, dass sie noch hoch oben in der Bruthöhle das Herz einer Maus unten auf dem Waldboden klopfen hörten. Da sollte es ihm ja wohl gelingen zu hören, ob sich ein Waschbär näherte. Er legte den Kopf schief und fuhr zusammen. Was war das für ein Geräusch? Der leise, heisere, wohlbekannte Ruf kam aus der Tannenkrone.
    „Soren! Soren!“, rief es aus der Bruthöhle, wo sich seine Geschwister in die weichen weißen Flaumfedern kuschelten, die sich die Eltern ausgerupft hatten. Aber der Rufer war nicht Kludd und auch nicht Eglantine.
    „Mr s Plithiver!“, jammerte Soren.
    „Soren! Bist d u … Lebst du noch? Unsinn, natürlich lebst du noch, wenn du rufen kannst. Hast du dir wehgetan? Hast du dir etwas gebrochen?“
    „Glaub nicht, aber wie soll ich bloß wieder heraufkommen?“
    „Oje, oj e …“, jammerte Mr s Plithiver. Sie schien mit der Situation überfordert. Rettungsaktionen gehörten wohl nicht zu den Aufgaben einer Nesthälterin.
    „Wann kommen Mama und Papa denn wieder?“, rief Soren nach oben.
    „Ach, Schätzchen, das kann dauern.“
    Soren war inzwischen zu den Wurzeln der Tanne hinübergehüpft, die sich wie knotige Zehen über den Erdboden streckten. Von hier aus konnte er Mr s Plithiver auch sehen. Ihr kleiner Kopf mit den rosafarben schillernden Schuppen lugte aus der Höhlenöffnung. Wo die Augen hingehörten, waren nur zwei kleine Vertiefungen zu erkennen.
    „Was soll ich jetzt bloß machen?“Die Nesthälterin seufzte ratlos.
    „Ist Kludd wach? Vielleicht fällt ihm ja etwas ein.“
    Mr s Plithiver klang unschlüssig. „J a … vielleich t …“ Soren hörte, wie sie Kludd weckte. „Schimpf nicht, Kludd. Dein Brude r … Dein Bruder is t … Soren ist leider vom Baum gefallen.“
    Soren hörte seinen großen Bruder gähnen.
    „Auweia“, brummelte Kludd. Besonders betroffen klang er allerdings nicht, fand Soren. Da erschien auch schon Kludds großer Kopf in der Einflugöffnung. Aus dem herzförmigen weißen Gesicht blickten die schwarzen Augen zu Soren hinunter. „Tjaa a …“, sagte Kludd gedehnt, „da sitzt du wohl ganz schön in der Patsche.“
    „Das weiß ich selbst. Kannst du mir nicht irgendwie helfen? Du kennst dich mit dem Fliegen besser aus als ich. Kannst du es mir nicht beibringen?“
    „Ich? Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte! Bist du gaga?“ Kludd lachte. „Ich soll dir das Fliegen beibringen? Sonst noch was?“ Er lachte wieder. Es klang verächtlich.
    „Ich bin überhaupt nicht gaga! Du gibst doch immer damit an, was du alles weißt und kannst, Kludd.“
    Allerdings. Seit Soren geschlüpft war, hatte Kludd keine einzige Gelegenheit ausgelassen, seinem kleinen Bruder klarzumachen, dass er der Überlegene war. Ihm gebührte der schönste Platz im Nest, weil ihm schon der Flaum ausfiel und er deshalb fror. Ihm gebührten die größten Brocken Mäusefleisch, weil er demnächst flügge wurde.
    „Du hast doch schon deinen Ersten Flug gefeiert, Kludd. Sag mir, wie man’s macht!“
    „Das kann man nicht mit Worten sagen, das muss man im Gefühl haben. Außerdem sind dafür Mama und Papa zuständig. Ich werde mir doch nicht anmaßen, ihre Aufgaben zu übernehmen.“
    Soren hatte keine Ahnung, was „anmaßen“ bedeutete. Kludd verwendete oft ausgefallene Wörter, um Eindruck zu schinden.
    „Was heißt ‚anmaßen‘“?, fragte er zwar, aber das war im Grunde auch egal. Ihm lief die Zeit davon. Das letzte Tageslicht verlosch allmählich, der Abend warf seine Schatten voraus. Bald würden die Waschbären aus ihren Höhlen kommen.
    „Jedenfalls kann ich es dir nicht beibringen, Soren“, erwiderte Kludd nachdrücklich und setzte in feierlichem Ton hinzu: „Es wäre äußerst unpassend für einen Jungvogel wie
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