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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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neuen Stadtzentrum unterhalb der Altstadt. Asis ist nur selten in diesem Viertel, seit ihr alter Fußballplatz von Neubauten verdrängt wurde und sie auf den Aschenplatz direkt hinter der Altstadtmauer ausweichen mussten.
    In der Altstadt ist jede Gasse gepflastert. Die Gassen verlaufen so wirr über die Bergkuppe, dass Fremde sich schnell verlaufen. Manche sind so eng, dass man schon Schwierigkeiten hat auszuweichen, wenn einem ein vollbepackter Esel entgegenkommt. Trotzdem wagen sich manche Bewohner und Händler mit ihren Automobilen hinein. Nicht selten verursachen sie ein großes Verkehrschaos, wenn sie in den engen Gassen stecken bleiben oder ihnen ein anderer Wagen entgegenkommt. Dann gibt es ein wildes Gehupe und Geschrei.
    Früher gab es Stadttore, die nach al-’Aischa, dem Nachtgebet, geschlossen wurden. Davon weiß Asis nur aus den Geschichten der Älteren, die sich nach den ruhigen Nächten ohne Motorengeheul und wütenden Hornstößen zurücksehnen. Asis aber ist es so lieber. Wie könnte er sonst in die Stadt zurückkehren, wenn ihr Spiel mal wieder kein Ende fände?
    Hier in der Neustadt sind noch immer viele Straßen nicht asphaltiert. Zu schnell wachsen neue Häuser die Hänge hinauf und hinab, die meisten unfertig und ohne jeden Plan. Fast alle sind aus Beton gebaut, mit großen Fenstern selbst zur lauten und staubigen Straße hin, während in den alten steinernen Wohntürmen viele Fenster noch aus dünnen Alabasterscheiben bestehen, sodass zwar Licht in die Innenräume dringt, aber niemand von außen hineinsehen kann.
    Dr. Fuad al-Halawi ist nicht überrascht, Asis plötzlich in seinem Sprechzimmer zu sehen.
    »Wie geht es dir, junger Mann? Du hast doch nicht in deinen jungen Jahren schon Herzprobleme?«
    »Sie haben gesagt, ich solle zu Ihnen kommen, wenn der Blitz einen bleibenden Schaden angerichtet haben sollte.«
    »Und hat er das?«
    »Seit einigen Tagen höre ich Musik in meinem Kopf, Lautenmusik. Sie lässt sich nicht abstellen.«
    »Das sind vermutlich akustische Halluzinationen. Das kann vorkommen, wenn ein starker Stromschlag unser Gehirn trifft.«
    »Was ist das für eine Krankheit, diese Halluzoo –«
    »Eine Halluzination ist eine Art Traum, ohne dass du schläfst.«
    »Aber es ist nicht wie ein Traum. Es ist vollkommen wirklich. Ich höre die Musik so deutlich, wie ich Ihre Stimme höre!«
    »Ich bin kein Nervenarzt, ich bin Herzspezialist. Doch bin ich sicher, dass diese Halluzinationen in einigen Tagen wieder verschwinden werden. Wenn du dir aber Sorgen machst, kann ich dich zu einem Neurologen schicken, der sich deinen Kopf genauer ansieht.«
    »Muss ich mir denn Sorgen machen?«
    »Ich glaube nicht. Quält sie dich denn, die Musik?«
    »Nein, eigentlich ist sie ganz schön. Aber sie gehört nicht zu mir. Ich interessiere mich nicht für Musik. Zumindest nicht für diese Art von Musik.«
    »Vielleicht solltest du ihren Ruf ernst nehmen.«
    »Und Musiker werden und die Leute unterhalten?«
    »Die Musik existiert nicht nur zu unserem Vergnügen, Asis!«
    Wütend verlässt Asis die Praxis von Dr. Halawi. Ein Herzspezialist, das ist nun wirklich das Letzte, was er braucht! Soll der Kerl sich doch um seine Herzensangelegenheiten kümmern und ihn, Asis, in Ruhe lassen. Unzufrieden kickt er eine leere Plastikflasche vor sich her. Es geht bereits auf al-Maghrib, das Abendgebet zu und ist bereits zu spät, um noch zum Training zu gehen.
    Wenn er nur wüsste, wie er diese Töne aus seinem Kopf herausbekäme! Nein, verrückt ist diese Musik in seinem Kopf nicht, aber sie klingt auch nicht so wie die Lieder der berühmten ’Udspieler, die seine Eltern so sehr mögen. Ja, diese Art von Musik hat Asis bisher noch nie gehört. Das einzige Wort, das ihm dazu einfällt ist
Wassermusik
, Nieselregen, Schauer, Sturzbäche, Fontänen … Er war noch nie am Meer, aber vielleicht klingen die Wellen so, wenn sie gegen die rasiermesserscharfen Klippen branden und in Myriaden silberner Tröpfchen zerstäuben oder auch nur sanft wie eine Lammzunge an den puderfeinen Strand lecken. Und ohne sich wehren zu können, überschwemmt ihn die Musik in seinem Kopf mit einer bisher nie gekannten Sehnsucht nach dem Meer.

5
    Was für ein merkwürdiges Instrument! Bisher hat Asis es immer für plump gehalten, dickbäuchig wie eine Schwangere und langhalsig wie eine hölzerne Giraffe, dann dieser kleine, in den Nacken geworfene Kopf mit den acht Ohren. Nein, das ist kein Instrument zum Verlieben, das ist allenfalls
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